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Pflegebedürftig. Damit die Bürger mehr Verantwortung für alte Menschen übernehmen, muss ihnen die Politik mehr Freiraum geben.

© dpa

Warum die Pflegereform nicht reicht: Es bleibt in der Familie

Für gute Pflege braucht es nicht nur mehr Geld. Die Gesellschaft muss stärker in die Verantwortung - und dafür muss sich vor allem der Arbeitsmarkt ändern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Rainer Woratschka

Irgendwas kann nicht stimmen. Da knöpfen die Regierenden den Bürgern nun pro Jahr 3,6 Milliarden Euro zusätzlich über höhere Sozialbeiträge ab, kündigen obendrein an, ihnen in Kürze weitere 2,4 Milliarden zu nehmen – und kein Protest ist zu vernehmen, nicht mal aus dem darin so geübten Arbeitgeberlager.

Oder andersherum: Da schafft es die Politik nach jahrzehntelangem Gezerre und immer neuen, längst nicht mehr ernst genommenen Versprechereien tatsächlich, eine größere Pflegereform auf den Weg zu bringen. Und keiner jubelt, kein Begeisterungssturm. Dem ausführenden Minister bläst kaum ein Lüftchen öffentlichen Lobes um die Nase.

Politik unter ihren Möglichkeiten

Sind die Menschen zu abgelenkt, stecken sie gerade zu sehr in Terrorangst und Sorge um ausufernde Islamisten-Gewalt? Oder liegt es schlicht am Thema, dass sich keiner richtig ärgern oder freuen will, an der geringen Lust, sich mit den Schattenseiten des Lebens, dem eigenen Hinfälligwerden und Tod auseinanderzusetzen? Gegen Letzteres spricht die engagierte Debatte der vergangenen Monate um die Sterbehilfe.

Nein, die Menschen haben einfach ein feines Gespür dafür, was nottut und was nicht. Wo die Politik wirklich neue Signale setzt, um die es zu streiten lohnt – und wo sie unter ihren Möglichkeiten bleibt.

Das meiste ist überfällig

Man braucht sich die Sache ja nur mal näher anzusehen. Das Meiste des jetzt Angegangenen und als große Reform Verkauften ist schlicht überfällig. Einen Großteil der Beitragserhöhung beispielsweise frisst allein der Inflationsausgleich für die im Lauf der Jahre immer wertloser gewordenen Leistungen der Pflegeversicherung. Zu einer automatisierten Anpassung haben sich die Reformer wieder nicht durchringen können, die Selbstverständlichkeit wird also auch künftig Streiterei verursachen und Energien vergeuden.

Oder die Neudefinition von Pflegebedürftigkeit, die nun als Nächstes angegangen werden soll und mit der sich schon drei Vorgänger des amtierenden Gesundheitsministers und Heerscharen von Experten aufs Intensivste beschäftigt haben. Was ist so großartig an der Einsicht, dass auch Demenzkranke nicht ohne Hilfe bleiben dürfen und dass es bei guter Pflege nicht nur darum gehen kann, Menschen im Minutentakt zu sättigen und sauber zu halten? Ihre Umsetzung, so sie denn nun endlich kommt, ist kein Grund zum Enthusiasmus, allenfalls zum Aufatmen.

Ein Hunderter zur Alltagserleichterung

Und der Rest vom Fest? Pflegende Angehörige sollen entlastet werden, es gibt nun mehr und besser kombinierbare Offerten für Kurzzeit- und Verhinderungspflege. Das ist so kompliziert, dass vieles davon wohl gar nicht abgerufen werden wird. Es sei denn, es gäbe ordentliche Beratung. Doch von den „Pflegestützpunkten“, mit denen eine Ulla Schmidt seinerzeit das Land überziehen wollte, um den Dschungel der Angebote für alle nutzbar zu machen, ist keine Rede mehr.

Bleibt ein wenig Alltagserleichterung für Pflegebedürftige im eigenen Zuhause. Einen Hunderter erhalten sie nun pro Monat, um sich fürs Einkaufen und Fensterputzen, für den Gang zum Arzt oder zur Behörde bezahlte Helfer leisten zu können. Eigenartig, dass es das bisher nicht gab, wo es doch für die Pflegekassen so viel günstiger ist, wenn alte Menschen zu Hause und nicht in Heimen gepflegt werden.

Und, ach ja, in Letzteren sollen sie künftig nicht mehr nur verwahrt, sondern sogar ein bisschen gefördert werden. Neben den gesetzlichen Krankenversicherern wurden erstmals auch die Pflegekassen verdonnert, Geld für Prävention lockerzumachen. Offenbar hat sich herumgesprochen, dass es dem Menschen nicht bekommt, nur im Gitterbett oder im Rollstuhl vor sich hinzudämmern.

Geld allein hilft nicht weiter

Das alles ist gut und schön, allgemeiner Konsens, der finanziert werden muss, vom Hocker reißt es keinen. Und der Ruf nach mehr Geld führt auch nicht weiter. Schließlich ist die Pflegeversicherung als „Teilkasko“ konzipiert. Es ist nicht einzusehen, dass Begüterte, die ihren Angehörigen Milliarden vererben, für ihre Pflege allein die Beitragszahler zur Kasse bitten.

Nein, das Kernproblem ist ungelöst und ein strukturelles. Es ist die Frage, ob es der Politik gelingt, die Bürgergesellschaft für ihre Alten in Verantwortung zu nehmen – und die Arbeitswelt so zu gestalten, dass dies den Menschen neben Beruf und Kindererziehung auch möglich ist. Noch werden zwei von drei Pflegebedürftigen durch Angehörige versorgt, meist ohne fachliche Unterstützung. Experten haben errechnet, dass diese Leistung, von Profis erbracht, gut 75 Milliarden Euro kosten würde. Familien sind der mit Abstand größte und preisgünstigste Pflegedienst, ohne sie wäre unser Pflegesystem unbezahlbar.

Die Familienpflegezeit ist ein Witz

Doch die familiären Bindungen sind im Schwinden. Erwachsene Kinder, so sie überhaupt da sind, leben weit entfernt von ihren Eltern, gefordert und oft genug auch überfordert von ihren Jobs und Verpflichtungen. Auf solche Blutsbande ist immer weniger Verlass. Helfen können nur neue Strukturen, Netzwerke aus Freunden, Nachbarn, Ehrenamtlichen, unterstützt von Kommunen, Kirchen, Vereinen.

Hier muss die Politik Aufbauarbeit leisten, hier muss sie investieren und vor allem: Freiräume schaffen. Durch flexiblere Arbeitszeit- und Freistellungsregelungen, Lohnersatzleistungen, Kündigungsschutz. Die Regelungen zur Familienpflegezeit, die ja ebenso für Freunde und Nachbarn gelten, sind trotz Nachbesserung ein Witz.

Die Kleinen in die Kita, die Alten ins Heim?

Um sich zu engagieren, müssen sich die Bürger abgesicherter fühlen. Doch der Fokus der Regierenden liegt scheinbar woanders. Mehr Frauen in Karrierejobs, längere Lebensarbeitszeiten. Der Preis dafür? Die Kleinen noch früher in die Kita, die Alten ins Heim? So wird das nicht funktionieren.

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