
© imago/Olaf Schuelke
Deutschland vor dem Fluchtwinter: Es ist ein Märchen, dass es uns ohne die Neuankömmlinge besser ginge
Wieder ein Gipfel. Ein Ritual, das verdeckt, dass die Ankunft vieler Menschen aus dem Ausland die ganze Gesellschaft fordert - und ihr hilft, moderner zu werden.

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Gipfeltreffen haben notwendig etwas Rituelles, oft ist ihr unmittelbarer Ertrag gering. Das ist nicht immer schlecht: Sie markieren Dringlich- und Notwendigkeit, setzen Ausrufezeichen: Achtung, da muss rasch etwas geschehen - oder aber auch: Genügend Akteur:innen finden, dass etwas geschehen muss.
Spannend ist es aber, sich anzusehen, was so ein Gipfel kommuniziert. Im Fall der zahlreichen Spitzentreffen in der Flüchtlingspolitik eigentlich immer nur eins: Notstand, Katastrophe, Houston, wir haben ein Problem. Es sind so viele, die kommen, sie brauchen alle Wohnungen, Schulen, Kitas, die wir nicht haben. Also her mit dem Geld!
Das Ritual ist während dieses Gipfeltreffens der Bundesinnenministerin mit den Kommunen ein klein wenig vom Gleis gerutscht: Nancy Faeser brachte nicht, wie sonst üblich, Bares mit, sondern – so wichtig wie geldwert – das Versprechen, bundeseigene Immobilien zur Verfügung zustellen, damit die Neuen auf Dauer ein Dach über dem Kopf haben. Mehr Geld, das bleibt späteren Verhandlungen mit dem Kanzler vorbehalten.
Ohne sie ginge es uns besser? Ein Märchen
Nicht geändert hat sich auch mit diesem Gipfeltreffen die Gipfel-Erzählung: Geflüchtete als Problem, Notstand, als etwas, dessen Eindringen aufs eigene Territorium eigentlich verhindert gehört. Faeser versprach jetzt - den Kommunen! - mehr Grenzkontrollen. Und wenn Verhindern nicht möglich ist, sollen wenigstens die Konsequenzen weniger schlimm werden. Die Erzählung hinter der Erzählung: Ohne die da ginge es uns hier gut. Jedenfalls besser.
Es ist schwer zu bestreiten, dass es kein Spaziergang ist, in kurzer Zeit viele Menschen aufzunehmen und ihnen das Leben hier zu ermöglichen, die meist die Sprache nicht sprechen, den Alltag ihres Aufnahmelands erst noch verstehen müssen und womöglich traumatisiert sind. Und den Job machen in erster Linie die Städte und Gemeinden, übrigens viele gern.
Aber dass alles besser wäre ohne Menschen, die hier Schutz suchen, ist ein Märchen-Plot. Ebenso dass sie nur Kosten verursachen. Hätten denn alle im Land genügend bezahlbaren Wohnraum, wenn in den letzten 15 bis 20 Jahren niemand nach Deutschland geflohen wäre, oder ist die Lage nicht wegen Wohnbaupolitik und Bauspekulation so wie sie ist?
Auch am Mangel an Kinderbetreuungsplätzen leidet Deutschland schon etwas länger. Erst in den allerletzten Jahren wurde er zum Glück durch einsichtige Politikerinnen und Druck von Wirtschaft und Familien wenigstens gemildert.
Der „Flüchtlingsgipfel“ braucht einen neuen Namen
Und dass ganze Landstriche abgehängt sind, Arbeitsplätze fehlen und irgendwann die letzte Hausärztin wegzieht, die Grundschule schließt und der letzte Tante-Emma-Laden: Das ist nicht nur nicht Schuld der Neuen. Sie könnten sieche Kommunen sogar wiederbeleben.
Vorausgesetzt, der Staat schafft Infrastruktur, die ihnen ebenso nützen würde wie den Alteingesessenen und womöglich die zurückholen könnten, die die chancenlosen Orte einmal verlassen haben: Nahverkehrsanbindungen in die nächste Stadt, schnelles Internet fürs Homeoffice.
Das ist alles keine Utopie. Eine Studie des Agrarforschungsinstituts des Bundeslandwirtschaftsministeriums brachte letztes Jahr heraus, dass es bereits Beispiele guter kommunaler Praxis gibt und dass das nicht immer eine Frage des Geldes ist – auch wenn Geld natürlich hilft.
Etliche bitterarme Ruhrgebietsstädte machen bereits fortschrittliche Integrationspolitik, weil sie darin keinen Luxus, sondern ihre Chance sehen. Mehr als Geld und gute Lage entscheiden die Köpfe vor Ort, ob sie ergriffen wird: Offenheit für Neues und Neue, Expertimentierfreude. Oder deren Fehlen.
Die Neuankömmlinge sind nicht das Problem der Alteingesessenen. Sie radikalisieren nur vieles, was nicht gelöst wurde, lange bevor sie kamen. Neben Wohnraum und Kitas sind das moderne, auf Diversität eingerichtete Lehrpläne, vielsprachige Behörden, die Lust von Arbeitgebern auf internationale Teams. Und und und.
Ralf Dahrendorf, der große deutsche Gelehrte mit Londoner Wohnsitz, sagte einst, ein Wort wie Hartz IV hätte die britische Regierung nicht mehr als einen Tag geduldet. Wie wär’s, wenn wir den nächsten Flüchtlingsgipfel „Fundraisinggipfel für ein modernes Deutschland“ taufen?
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