Was WISSEN schafft: Gegen Sarrazin, gegen Multi-Kulti
Ein Buch über Migration überschreitet ideologische Grenzen
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Ende Juni hatte der US-Senat einen Kompromiss im Streit um Barack Obamas Einwanderungsreform gefunden. Den elf Millionen vor allem lateinamerikanischen Migranten soll der Weg in die Legalität geebnet werden, wenn auch unter zahlreichen Auflagen. Als Zugeständnis an die Republikaner werden die Truppen an der Grenze zu Mexiko verdoppelt. Dem Kompromiss muss allerdings noch das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus zustimmen – und ob es das tun wird, gilt als äußerst fraglich.
Mitten hinein in die Debatte ist ein Buch erschienen, dass jenseits aller Fronten argumentiert und wegen seiner globalen Perspektive auch für die Europa interessant sein dürfte: „Global Crossings“. Autor ist Alvaro Vargas Llosa, Sohn des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa. Er lebt selbst über alle Grenzen hinweg – heute in den USA – und überschreitet mit seinem Schreiben die Grenzen zwischen Journalismus, Wissenschaft und Politik. So besticht auch seine Studie durch ihre Breite: Sie ist historische, migrationswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Analyse zugleich.
Mit seinem entspannten Grundton scheint Vargas Llosa zunächst eine Art Anti-Sarrazin zu sein. Auch in den USA warnen seit Beginn der 2000er Jahre regelmäßig Autoren angesichts unterschiedlicher Geburtenraten in den unterschiedlichen Bevölkerungsteilen vor einem Aussterben des weißen Mannes. Den Ursprüngen dieser „nativistischen“ Argumentation, der Angst vor der kulturellen Aushöhlung der Ursprungsgesellschaft, spürt Vargas Llosa bis in das 19. Jahrhundert nach. Beim Entkräften dieser Befürchtungen hat er den Vorteil, dass sich im den USA die Effekte von Migration über Jahrhunderte hinweg untersuchen lassen. Vargas Llosa kommt zu dem Schluss: Schon immer gab es Phasen, in denen innerhalb weniger Jahrzehnte Zig Millionen Einwanderer kamen, sich aber die Kultur des Landes dadurch nicht wesentlich verändert habe.
Ebenso wie die Zuwanderung, so zeigt der Autor, sind Assimilierungsprozesse der Normalfall. Orientiert man sich an Faktoren wie Spracherwerb, Bildung und Heiraten außerhalb der eigenen „Community“, brauchte es im Amerika des 20. Jahrhunderts in der Regel drei Generationen, bis der überwiegender Teil der Zuwanderer sich „integriert“ hatte.
Auch volkswirtschaftlich gibt der Autor Entwarnung. Die Frage, die die politische Debatte in den USA dominiert (kosten Migranten die Volkswirtschaft mehr, als sie ihr bringen), will Vargas Llosa nicht beantworten: zu komplex, zu unseriös. Ohnehin sieht er den wirtschaftlichen Defekt nicht in der illegalen Zuwanderung selbst, sondern in den nationalen Grenzen, die den ohnehin längst globalisierten Arbeitsmarkt zerschneiden. Die Arbeiter kommen nicht, weil sie der Armut in ihren Heimatländern entfliehen, mein Vargas Llosa. Sie kommen, weil es auf dem US-Arbeitsmarkt einen reellen Bedarf für billige Arbeitskräfte gibt, ein Segment, das die Amerikaner selbst durch niedrige Geburtenraten und steigende Bildung nicht mehr bedienen können
Ein Beleg dafür sei, dass in Zeiten konjunktureller Krisen (wie von 2007 bis 2009) die Zahl der Einwanderer zurückgehe. Insgesamt führe die Zuwanderung deshalb zu Produktivitätssteigerungen: „Der Kapitalismus ist eine Kreatur, die sich schnell an gestiegene Produktionsfaktoren anpasst – und von ihnen profitiert.“ Einen Konflikt sieht er allerdings mit dem Sozialstaat. Einwanderer nähmen deutlich häufiger Leistungen in Anspruch. Doch Vargas Llosa hält den amerikanischen Sozialstaat ohnehin für zu aufgebläht, das sei das eigentlich Problem, dass man angehen müsse.
Es ist diese kühle, marktliberale Perspektive, die manchem linken Migrationsbefürworter im Halse stecken bleiben dürfte. Den Mulitkulturalismus beschreibt Vargas Llosa als Ergebnis postmoderner Gehirnwäsche, als akademischen Gutmenschenkomplex. Wer einreise, von dem müsse man auch etwas fordern dürfen. Gerade diese Mischung, die Forderung der Öffnung der Grenzen einerseits und die Ansprüche an die Zuwanderer andererseits, macht Vargas Llosa für die hiesige Debatte interessant – ist dieser Mix doch hier quasi undenkbar.
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