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Präsident Biden bei einem Wahlkampfauftritt am 5. November in Philadelphia.

© AFP / MARK MAKELA

Hauptziel außer Reichweite: Joe Biden droht zur tragischen Figur zu werden

In seinen ersten zwei Amtsjahren hat der US-Präsident wichtige Wahlkampfversprechen abgearbeitet. Doch die Herzen der Bevölkerung hat er damit nicht gewonnen.

Ein Kommentar von Anja Wehler-Schöck

Ein tiefes Aufatmen war vielerorts zu vernehmen, als Joe Biden im November 2020 die US-Präsidentschaftswahlen für sich entschied. Dabei hatte sich Biden als Kandidat zunächst weder vor- noch aufgedrängt.

Doch in einem Vorwahlkampf, der von schwachen Herausforderern gekennzeichnet war, und in dem mit einer drohenden zweiten Amtszeit Donald Trumps scheinbar alles auf dem Spiel stand, setzten die Demokraten schließlich auf den soliden alten Bekannten. Joe Biden als der „Anti-Trump“.

Nun würden Professionalität und Vernunft in die amerikanische Politik zurückkehren, erhofften sich viele. Statt auf spalterische Identitätspolitik zu setzen, würde Präsident Biden sich den vielen drängenden Herausforderungen des Landes widmen. Und er hat geliefert.

Covid-Hilfen, Klimaschutz, Arzneimittelpreise, Fertigung, Infrastruktur – trotz knappster Mehrheiten im Kongress gelang es ihm, auf etlichen Gebieten seine Wahlversprechen umsetzen. Die Arbeitslosenquote sank auf den niedrigsten Stand seit rund 50 Jahren.

Doch die Zustimmungswerte des Präsidenten sind im Keller. Sein konventioneller Politikstil, seine unaufregende Persönlichkeit lösen bei den Menschen keine Begeisterungsstürme aus. Während Trump-Fan-Artikel nach wie vor schier omnipräsent sind, sucht man Biden-T-Shirts und -Andenken vielerorts vergeblich.

Trump-Anhänger bei der „Save America“-Rally am 5. November in Pennslyvania, bei der der ehemalige Präsident sprach.
Trump-Anhänger bei der „Save America“-Rally am 5. November in Pennslyvania, bei der der ehemalige Präsident sprach.

© AFP / ANGELA WEISS

Und so bleibt auch das Hauptziel seiner Präsidentschaft für Biden außer Reichweite: Der große Versöhner wollte er sein. Doch von gesellschaftlicher Einheit kann heute in den USA nicht die Rede sein. Von seinem Kurs in eine immer tiefere Spaltung ist das Land keinen Millimeter abgewichen, daran hat auch ein Präsident Biden nichts geändert.

Politische Gewalt ist in den USA wahrlich kein Novum. Auch die „Hexenjagd“ auf Nancy Pelosi ist keineswegs eines Trump’sche Erfindung, sie ist bereits seit ihrer ersten Amtszeit als Sprecherin des Repräsentantenhauses 2007 bewährte Praxis.

Doch seit sich Donald Trump auf der politischen Bühne breit gemacht hat, hat sich die Lage dramatisch verschlimmert: Seine aufgeheizte, feindselige Rhetorik hat eine Brutalität salonfähig gemacht, die Assoziationen an dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte weckt. Mehr als ein Viertel der Befragten gaben in einer aktuellen Umfrage der Universität Chicago an, gegen die Regierung notfalls zur Waffe zu greifen.

Dass Biden mit seinem Versöhnungswunsch von Anfang an auf verlorenem Posten kämpfte, liegt jedoch nicht nur an den krassen Ausbrüchen der Polarisierung, die sich in Gewalttaten, Entführungsversuchen oder Aufmärschen manifestieren. Vielmehr ist es der schleichende Trend einer rigorosen Lagerbildung, der die USA seit vielen Jahren wie keine andere wohlhabende Demokratie prägt und sich stetig verschärft.

Das Recht auf Abtreibung ist in den USA umstritten: Gegner und Befürworter bei einer Demonstration.
Das Recht auf Abtreibung ist in den USA umstritten: Gegner und Befürworter bei einer Demonstration.

© REUTERS / Evelyn Hockstein

Das Phänomen der zunehmenden Abschottung und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden wird in den USA gerne als „self-sorting“, als Selbstsortierung bezeichnet. Freundeskreise und selbst Wohngegenden ordnen sich immer stärker entlang der Parteilinien. Mehr als 60 Prozent aller Demokraten und Republikaner wären inzwischen nicht mehr damit einverstanden, würde ihr Kind einen Unterstützer der jeweils anderen Partei heiraten.

Auch in der Politik ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg gesunken. Statt überparteilich an den grundlegenden sozioökonomischen Baustellen des Landes zu arbeiten, erschöpft man sich in hochemotionalen ideologischen Grabenkämpfen. Das rigide Zweiparteiensystem und eine binäre Medienlandschaft, in der Nachrichten ohne ideologische Einfärbung zur Seltenheit geworden sind, ersticken den politischen Pluralismus.

Dass die Zwischenwahlen, die Midterms, am Dienstag eine Richtungsentscheidung für die kommenden Jahre sind und die Weichen stellen für die Präsidentschaftswahlen 2024, steht außer Zweifel. Doch an einer Sache wird ihr Ausgang nichts ändern: Die USA werden unbeirrbar auf Spaltungskurs bleiben.

Es ehrt Biden, sich die innere Versöhnung der USA zum Ziel seiner Präsidentschaft gesetzt zu haben. Es zu erreichen, war jedoch von Beginn an illusorisch. Statt als Versöhner in die Geschichtsbücher einzugehen, droht Joe Biden zur tragischen Figur zu werden.

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