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Meinung: Kein karolingisches Kleinklein Kerneuropa ist schwer vorstellbar – und bedroht deutsche Interessen.

Von Roland Freudenstein

POSITIONEN

Konsens bis Jahresende, oder Kerneuropa: das ist die Botschaft, die die Bundesregierung seit dem Scheitern des Verfassungsgipfels in Brüssel im Dezember 2003 verkündet. Ähnlich hört man es aus Paris. Fragt man nach, was Kerneuropa nun heißt, bekommt man meist zunächst die „verstärkte Zusammenarbeit“ zur Antwort, die ja innerhalb des EU-Vertragswerks möglich ist und die heute schon praktiziert wird, z. B. beim Euro. Als nächste Stufe dann eine feste Ländergruppe, die außerhalb der Verträge auf mehreren Integrationsfeldern vorangeht. Wenn man die Möglichkeiten einmal konkret durchspielt, zeigt sich allerdings sehr schnell: Eine verstärkte Zusammenarbeit ist zwar sinnvoll, löst aber nicht die Hauptprobleme in der EU, die wir heute haben oder morgen bekommen. Ein echtes Kerneuropa außerhalb der Verträge ist schwer vorstellbar und würde elementare deutsche Interessen bedrohen.

Eine verstärkte Zusammenarbeit wäre auf drei Gebieten denkbar: Äußere Sicherheit, innere Sicherheit und Wirtschaft. Als erstes wird immer die Verteidigungspolitik genannt: Eine Verbesserung der Fähigkeiten der EU, militärisch zu agieren, wenn die Nato sich als Ganzes nicht engagieren will. Dass dies alles ohne Großbritannien keinen Sinn macht, ist seit dem „Pralinengipfel“ vom April 2003 ziemlich klar. Und so haben sich Berlin/Paris und London aufeinander zu bewegt. Im Grunde garantiert das Mitmachen der Briten, dass dabei kein neuer Versuch einer Gegenmachtbildung gegen Amerika herauskommt – und damit wird dieses Projekt nicht nur akzeptabel, sondern attraktiv für Polen und andere „Neu-Europäer“. Jedenfalls ist es kein Druckmittel.

Als nächstes spricht man in Berlin und Paris gern von einem Voranschreiten in der Innen- und Rechtspolitik. Sicher gäbe es da noch Gebiete, wo die Integration vertieft werden könnte – in der Asylpolitik, oder bei Polizei und Justiz. Aber würde das in Madrid und Warschau so viel Eindruck machen, dass man in der Verfassungsfrage umdenkt? Wohl kaum. Die letzte Variante, die besonders in Paris gerne präsentiert wird: ein „gouvernement économique“ vielleicht. Aber dazu ist anscheinend nicht einmal die deutsche Bundesregierung bereit, denn die Wirtschaftssysteme sind zu verschieden. Es blieben auf diesem Feld allenfalls ein paar prestigeträchtige Großprojekte. Damit bewegt man die „Renitenten“ kaum zum Einlenken.

Bei Licht betrachtet ist es doch so: das einzige, was bei den „Schlusslichtern“ wirklich Befürchtungen auslösen könnte, wäre ein echtes Kerneuropa, in dem eine feste Ländergruppe außerhalb des Vertragsrahmens der EU sich ihre eigenen Institutionen schafft. Denn nur so, und nicht durch noch so phantasievolle und mutige Schritte einer „verstärkten Kooperation“, könnten in den Augen der Kerneuropa-Verfechter die beiden Hauptprobleme gelöst werden, die die EU im Moment hat bzw. in Kürze haben wird: Entscheidungsmechanismen und Geld. Am Ersteren ist die Verfassung in Brüssel gescheitert, vorerst zumindest. Und über das Letztere (in der Landwirtschaft und bei den Kohäsionsfonds) werden wir uns in den nächsten zwei Jahren streiten, wenn es um den EU-Haushalt 2007-13 geht. Natürlich kann man sich ein virtuelles Kerneuropa ausmalen, mit einer schönen Verfassung, in der nur noch die doppelte Mehrheit zählt, wo die lästigen und kostenintensiven Osteuropäer vor der Tür bleiben und man das knappe Geld endlich unter sich ausgeben kann. Das wäre aber das Ende des Binnenmarktes, und wahrscheinlich der EU überhaupt. Ein karolingisches Kleineuropa, in dem sich atlantische Gegenmachtträume mit interventionistischer Wirtschaftspolitik und demografischer Überalterung kombinieren würden: Der Weg in die Katastrophe, vor allem für Deutschland.

In Wahrheit brauchen wir die Spanier genauso wie die Polen und die anderen Neuen, so ungelenk und nationalistisch uns ihre Europapolitik erscheinen mag. Wir müssen uns mit ihnen in der Verfassungsfrage und bei den Finanzen zusammenraufen, auch wenn es länger dauert als ein Jahr. In Warschau und Madrid macht sich ja schon eine gewisse Nachdenklichkeit breit. Inzwischen ist eine verstärkte Zusammenarbeit auf einigen Gebieten eine gute Idee, aber sie hilft in diesen Schlüsselfragen nicht weiter. Und „Kerneuropa“ ist heute einfach gefährlich.

Der Autor leitet die Arbeitsgruppe Außen- und Europapolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Foto: kas

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