
Muslime demonstrieren: Kein Zwang zum Protest
Warum es falsch ist, Muslime zur Distanzierung vom Terrorismus zu drängen. Und trotzdem gut, wenn sie auf die Straße gehen. Ein Kommentar.

Wenn die sogenannte Mehrheitsgesellschaft die muslimische Minderheit treffen will, liegen immer zwei Versatzstücke griffbereit im Argumentebaukasten. Das erste lautet: „Eure Verbände sind ja gar nicht repräsentativ.“ Sobald ein Massenmörder während der Tat „Allahu Akbar“ schreit, kommt Satz zwei zum Einsatz: „Wo bleibt eigentlich der Aufschrei der Muslime?“
Muslimvereinigungen sind religiöse Dienstleister
Ja, was denn nun? Wenn die muslimischen Verbände tatsächlich jene Kleingartenvereine sind, als die sie auch in der Politik oft gelten, sobald es darum geht, dem Islam einen Platz am Tisch zu verweigern, dann lässt sich von ihnen auch schlecht jene Mobilisierung, etwa zum Protest, erwarten, nach der in Folge jedes islamistischen Anschlags gerufen wird.
Beide Sätze suggerieren sowieso, was so nicht stimmt: Unabhängig von Größe und Mitgliedszahl der Moscheegemeinden sind sie es, die religiösen Service bieten, Geistliche stellen, die Eheschließungen, Geburten, Beschneidungen, die Wallfahrt nach Mekka und Totengebete organisieren. Da sind sie unentbehrlich, auch für die, die nur ab und zu religiöse Begleitung wollen und in keiner Mitgliederstatistik auftauchen. Dafür gibt es Moscheen und ihre Organisationen, nicht für Zählappelle. Dennoch haben die islamischen Verbände sich immer wieder auch öffentlich positioniert und Tausende auf die Straße gebracht, Mitglieder und Nichtmitglieder. Ditib, die größte Organisation, versammelte vor etlichen Jahren mehr als 20 000 Menschen in Köln „Für Frieden, gegen Terror“. Nicht nur das öffentliche Gedächtnis dafür ist kurz. Heute findet Ditib selbst solche Demos stigmatisierend und der künftige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wünscht sich vom Verband, er möge sich aufs geistliche Kerngeschäft beschränken, statt – türkische – Politik zu machen.
Distanzierung - wozu?
Ganz gleich, wie oft wir den Aufschrei der Muslime schon hätten hören können und müssen: Er ist ungefähr so sinnvoll, wie von allen Männern zu fordern, sie sollten sich von der Gewalt gegen Frauen distanzieren, oder von Christen, dass sie öffentlich auf Abstand zum norwegischen Massenmörder Breivik gehen. Was soll der viel geforderte Aufschrei denn beweisen, was nicht der Alltag, zum Beispiel in einer Stadt wie Berlin, längst beweist? Dass Menschen, die in die Moschee gehen, in ihrer übergroßen Mehrheit die Gesetze achten oder auch einmal missachten wie Nichtmuslime auch, dass sie nicht mit Bombenbau beschäftigt sind, sondern damit, mit dem Gehalt über die Runden zu kommen und ihre Kinder großzuziehen.
Muslime als Bürger
Und dennoch ist es gut, dass an diesem Freitag Muslime zu einem „Ramadan-Friedensmarsch“ in Berlin und anderswo in Deutschland auf die Straße gehen. Nicht um etwas zu beweisen, sondern um ein Stück öffentlicher Kommunikation des wenig gewürdigten Selbstverständlichen zu leisten: dass sie Bürgerinnen und Bürger sind. Gut, dass sie das ohne Verbände schaffen wollen. Weniger gut, dass deren öffentliche Rolle gerade zu schwinden scheint, durch heikle Verbindungen in Erdogans Türkei oder interne Krisen. Im Dialog mit dem Staat brauchen auch Muslime Organisation.