Lesermeinung: Worüber man streitet, das kann keine Wissenschaft sein?
Zu: „Enquete-Gutachten:Politologe wirft SPD ’Zensur’ vor“, 13.9.
Stand:
Zu: „Enquete-Gutachten:Politologe wirft SPD ’Zensur’ vor“, 13.9.
In der Enquete-Kommission des Brandenburger Landtags zur „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ gibt es wieder einen Skandal. Man ist geneigt, dies als politischen Alltag abzutun. Doch dieser Fall verdient Beachtung. Nicht, weil einer der Protagonisten mein Kollege ist. Sondern weil ein Volksvertreter aus der bundesrepublikanischen Demokratie ein Bild von Wissenschaft und Gesellschaft zu vertreten scheint, in dem Meinungsfreiheit und Pluralismus keinen Platz haben.
Was ist geschehen? Die Enquete-Kommission hat diverse Gutachten in Auftrag gegeben, unter anderem eines über das DDR-Bild von Parteien und Verbänden in den Nachwendejahren. Dieses Gutachten will Thomas Günther (SPD), Mitglied der Enquete-Kommission und zuständig für dieses Thema, nun nicht akzeptieren. Seine Begründung: Bei dem Gutachten handele es sich um eine Streitschrift und nicht um eine wissenschaftliche Arbeit.
Wenn aber eine Streitschrift keine wissenschaftliche Arbeit sein kann, dann heißt das in der Konsequenz: Worüber man streitet, das kann keine Wissenschaft sein. Der Prozess des Bildens und Verwerfens von Hypothesen, des Argumentierens und Überzeugens, der in einer freiheitlich pluralistischen Gesellschaft zum Kern der Wissenschaft gehört, scheint für Günther gerade ein Kennzeichen der Unwissenschaftlichkeit zu sein. Von Geschichte und Philosophie bis zu Physik und Biologie – nichts als Unwissenschaft, weil Kontroverse? Diese Aussage Günthers ist höchst problematisch. Denn in ihr kommt ein vollkommen unfreiheitliches Wissenschaftsverständnis zum Ausdruck, wie es etwa in der DDR üblich war. Wahrheit war, was die Partei als solche erkannte.
Als Aufgabe der Wissenschaft blieb dann nur noch, den Graben zwischen Wahrheit und Wirklichkeit zu überbrücken. Für konkurrierende Meinungen, ob innerhalb oder außerhalb der Wissenschaft, ist in diesem Weltbild kein Platz. Stattdessen – und diese Argumentation greift Günther auf – disqualifiziert sich die andere Meinung gerade durch ihr Abweichen von der allein seligmachenden Lehre. Dass mit Günther ein Mitglied des Landtags, einem Organ einer freiheitlichen und pluralistischen Demokratie, seine Nähe zu solchen Auffassungen zu erkennen gibt, ist mindestens bedenklich.
Es sieht ganz danach aus, als wäre neben einer Auseinandersetzung mit der DDR und ihren Folgen sowie der Aufklärung über das Wesen einer Diktatur auch eine Auseinandersetzung mit dem (Wunsch-)Bild der Bundesrepublik und Aufklärung über das Wesen der Demokratie vonnöten.
Dagmar Schulze Heuling (Diplom-Politikwissenschaftlerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund SED-Staat, Freie Universität Berlin), Berlin
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: