PORTRÄT JAVIER SICILIA MEXIKANISCHER DICHTER:: „Man kann uns straffrei töten“
Vielleicht kann nur jemand, der einen so tiefen Schmerz verspürt, einen so wuchtigen Brief schreiben. Wenige Tage nachdem sein Sohn Juan Francisco vermutlich von Drogengangstern mit Klebeband vor dem Mund erstickt worden waren, wandte sich Javier Sicilia an Mexikos politische und kriminelle Klasse.
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Vielleicht kann nur jemand, der einen so tiefen Schmerz verspürt, einen so wuchtigen Brief schreiben. Wenige Tage nachdem sein Sohn Juan Francisco vermutlich von Drogengangstern mit Klebeband vor dem Mund erstickt worden waren, wandte sich Javier Sicilia an Mexikos politische und kriminelle Klasse. Mit einem offenen Brief in der Zeitschrift „Proceso“ traf der Dichter aus der Provinzstadt Cuernavaca den Nerv eines implodierenden Landes.
Mexiko wird seit fünf Jahren von einem Krieg zwischen Staat und organisiertem Verbrechen zerstört. Fronten gibt es keine mehr, es kann jeden treffen. So wie Sicilias 24-jährigen Sohn und sechs seiner Freunde, die wohl nur sterben mussten, weil die Mafia gerne ihre Macht demonstriert, indem sie Unbeteiligte tötet. Knapp 40 000 Morde zählt man schon.
Unter dem Titel „Wir haben die Nase voll“ wendet sich Sicilia nun zunächst an die Politiker: Wegen deren Korruption seien die Mexikaner nur noch Lebewesen, „die vergewaltigt, entführt, misshandelt und straffrei getötet werden können“. Die Vorstellungskraft der Politiker reiche nur bis zu den Waffen, „daher verachten sie Bildung, Kultur und Arbeit“.
Dann wendet sich der 55-Jährige an die Drogenkartelle und wirft ihnen den Verlust ihres Ehrenkodexes vor: „Sie sind zu Feiglingen geworden, wie die elenden Nazi-Sonderkommandos.“ Am Ende seines Schreibens ruft Sicilia zu Märschen gegen den Drogenkrieg auf. Zehntausende kamen in ganz Mexiko zusammen.
Nun ist der stille, rauchende Poet mit dem grauen Bart zur Symbolfigur des Protests gegen die Eskalationspolitik von Mexikos Präsident Felípe Calderón geworden. Manche Beobachter sehen schon den Beginn einer nationalen Bewegung. 95 Plaketten hat Sicilia an den Sitz des Gouverneurs seines Heimatstaats Morelos geschraubt. Darauf stehen die Namen der dort Ermordeten. Sicilia rief alle Mexikaner auf, es ihm gleichzutun. Die Politiker stehen nun vor einem Dilemma. Entweder ihre Amtssitze werden zu riesigen Mahnmalen, oder sie nehmen die Plaketten ab und machen sich unmöglich.
Und doch wirkt Sicilias Vorgehen hilflos. Zurzeit werden im Bundesstaat Tamaulipas Massengräber mit mehr als 100 Leichen freigelegt. Viele der Toten waren Insassen von Reisebussen. Sie wurden mitten auf der Strecke zum Aussteigen gezwungen, ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet. Ihr Ehrenkodex schert die Mafia schon lange nicht mehr. Philipp Lichterbeck
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