zum Hauptinhalt
Demografischer Wandel

© Imago / Imago / Rupert Oberhäuser

Mehr Geflüchtete, weniger Fachkräfte: Ist es nicht verschwenderisch, diese Potenziale nicht nutzen zu wollen?

Wer Flüchtlingszahlen und Fachkräftemangel getrennt betrachtet, muss sich große Sorgen machen. Beides zusammen in den Blick zu nehmen, mildert diese Sorgen.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Manchmal hilft es, zwei Probleme zusammen in den Blick zu nehmen. Vielleicht steckt in dem ersten ja die Lösung für das zweite.

Da sind zum einen die Flüchtlingszahlen. In Deutschland wird bis zum Jahresende eine Rekord-Zuwanderung erwartet. Gelder und Kapazitäten werden knapp. „Droht ein neues 2015?“, wird besorgt gefragt. Wieder müssen Turnhallen und Notunterkünfte bereitgestellt werden.

Knapp eine Million Menschen kamen seit dem 24. Februar aus der Ukraine. Eine weitere knappe Million hat in diesem Jahr vorwiegend aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens in Deutschland Zuflucht gesucht. Der Winter naht, die Balkanroute ist porös, der Druck an den Außengrenzen der EU nimmt erneut zu.

Die Babyboomer gehen in Rente

Da sind zum anderen die Fachkräfte, beziehungsweise die fehlenden Fachkräfte. Das Problem ist seit Jahren bekannt. Diverse Minister sind um die halbe Welt gereist – bis nach Mexiko und zu den Philippinnen -, um Pflegekräfte anzuwerben. Die Verfahren wurden beschleunigt, die bürokratischen Hürden abgebaut.

Doch das Problem wird eher größer als kleiner. Die Babyboomer gehen in Rente, die Lebenserwartung steigt, allein in der Pflege gibt es, je nach Schätzung, 50.000 bis 100.000 offene Stellen. Und so dramatisch wie in der Pflege sieht es auch in anderen Beschäftigungszweigen aus. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung schätzt, dass es knapp 2 Millionen offene Stellen in Deutschland gibt, Tendenz steigend.

Jeder Arbeitsplatz, der besetzt ist, bedeutet Wirtschaftswachstum, Steuereinnahmen, Einzahlungen in die Rentenkasse und in die Kranken- und Pflegeversicherung. Doch die Hälfte der deutschen Unternehmen klagt über zu wenige Arbeitskräfte. Dieser Mangel lässt die Wirtschaft stöhnen und das Wachstum stottern.

Ob im Bau oder bei der Pflege, ob im Handwerk oder dem Hotel- und Gaststättengewerbe: Alle Initiativen, um den Bedarf durch gezielte Zuwanderung zu decken, haben sich als unzureichend erwiesen. Laut Bundesagentur für Arbeit wären dafür 400.000 Fachkräfte notwendig, die pro Jahr nach Deutschland kommen.

35 Prozent der Asylsuchenden haben einen Job gefunden

Und damit zurück zu den Flüchtlingen. Die Bundesagentur für Arbeit hat berechnet, dass mit Stand Januar 2022, also vor Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine, nur 35 Prozent der in Deutschland Asyl Suchenden einen Job gefunden haben. Von den anderen leben viele ohne gesicherte Perspektive.

Rund 300.000 Zugewanderte sind ausreisepflichtig, von denen haben wiederum 82 Prozent eine Duldungserlaubnis. Unmittelbar ausreisepflichtig sind 54.000 Menschen. Tatsächlich abgeschoben werden jährlich etwa 20.000. In sie alle hat der Staat investiert. Über Monate, meist Jahre. Er hat sie ernährt, untergebracht, die deutsche Sprache gelehrt, gesundheitlich versorgt. Ist es nicht geradezu verschwenderisch, diese Potenziale nicht nutzen zu wollen?

Warum werden Asylbewerber abgeschoben, die gut integriert sind?

Das Asylrecht darf kein Einwanderungsrecht sein, ist oft zu hören. Aber solange es kein funktionierendes Einwanderungssystem gibt, muss die Gegenfrage erlaubt sein: Warum eigentlich nicht? Warum lässt der Staat Menschen, die hier leben, jahrelang über ihren Aufenthaltsstatus im Unklaren – statt eine Großoffensive zu starten, um sie besser zu qualifizieren? Warum schiebt er abgelehnte Asylbewerber ab, die nicht selten gut integriert sind?

Das Bundesentwicklungsministerium informierte am Dienstag über ein Pilotprojekt. Aus Ägypten, Marokko und Tunesien sollen junge Menschen nach Deutschland geholt werden, um dem (Zitat) „dramatischen Fachkräftemangel“, entgegenzuwirken. Präsentiert wurden zwei Auszubildende aus Tunesien, die bei der Deutschen Bahn angefangen haben.

Einen Tag zuvor hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg besucht. Dass derzeit wieder mehr Menschen übers Mittelmeer und über die Balkanroute nach Europa kämen, bereite ihr Sorge, sagte sie.

Wer Flüchtlingszahlen und Fachkräftemangel getrennt betrachtet, muss sich in der Tat große Sorgen machen. Beides zusammen in den Blick zu nehmen, lässt diese Sorgen etwas kleiner werden.

- Dieser Text wurde zuerst als Kommentar vom Deutschlandfunk gesendet.

Zur Startseite