Politik und Umfragen: Mehrheiten, die egal sind
In zwei Monaten wird gewählt, und bis dahin werden die Deutschen rund um die Uhr befragt. Doch was lernen wir aus Umfragen? Nichts! Ganz wesentliche, das Gemeinwesen prägende politische Entscheidungen wurden in Deutschland gegen eine Mehrheitsstimmung getroffen.
Dies wird ein toller Umfrage-Sommer, eine Demoskopie-Schlacht, die Hochzeit der Stimmungsanalytiker. Denn einerseits wird in gut zwei Monaten gewählt, andererseits gibt es keine Themen. Also werden die Deutschen rund um die Uhr befragt, und das Ergebnis wird dann als Nachricht präsentiert. Ein kleiner Ausschnitt aus den Schlagzeilen des gestrigen Tages: „Vier von fünf Deutschen rechnen damit, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt“ (Emnid); „Großteil der Deutschen empfindet das Leben in der Bundesrepublik als ungerecht“ (GfK); „Nur eine Minderheit der Deutschen traut der gesetzlichen Renten-Garantie“ (Emnid); „Jeder zweite Westdeutsche hält ostdeutsche Tugenden wie Gemeinschaftssinn, Kinderfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft für vorbildlich“ (Forsa). Uff, uff, sagen die Indianer bei Karl May, wenn sie überrascht sind, etwas bekräftigen und/oder jemandem Respekt erweisen wollen. In diesem Sinne sollte künftig jede Umfrage-Meldung mit einem kräftigen Uff-uff beantwortet werden.
Denn was lernen wir aus Umfragen? Nichts! Ein Beispiel: 69 Prozent der Deutschen meinen, die Bundeswehr solle so schnell wie möglich aus Afghanistan abziehen (ARD-Deutschlandtrend). Aber noch mehr Deutsche wollen am 27. September für eine Partei stimmen, die gegen einen raschen Abzug der Truppe aus Afghanistan ist (nur die Linkspartei ist dafür). Mit anderen Worten: Der Abzugswunsch ist mehrheitlich nicht wahlentscheidend, aus ihm folgt keine unmittelbare Parteipräferenz. Ähnlich bei der Atomkraft. Inhaltlich – Ausstieg ja oder nein – steht es etwa unentschieden. Aber mehr als zwei Drittel der Befragten (Forsa) geben an, dass das Thema trotz der jüngsten Störfälle im Reaktor Krümmel für sie nur eine geringe Rolle spielt. Man sieht: Umfragemehrheiten alleine ergeben noch kein Stimmungsbild, wenn nicht auch die Intensität der kollektiven Willensbekundungen gemessen wird.
Ganz wesentliche, das Gemeinwesen prägende politische Entscheidungen wurden in Deutschland gegen eine Mehrheitsstimmung getroffen: Westbindung, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, Nachrüstung, Einführung des Euro. Solche Praxis war und ist nicht undemokratisch, sondern Ausdruck der repräsentativen Demokratie. Wechselhafte demoskopische Daten bilden eben nicht die Grundlage vernünftiger und auf das Wohl des Landes gerichteter Politik. Es stimmt: Alle Macht geht vom Volke aus – aber nicht von Volkes Launen und Stimmungen, sondern von seiner bei Wahlen ermittelten Parteienmehrheit. Das kann man im erwarteten Umfrage-Sommer nicht oft genug betonen.