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Präimplantationsdiagnostik: Meine PID gehört mir

Die frühe Gendiagnose bei Embryonen braucht weder ein Verbot noch eine begrenzte Erlaubnis. Sie braucht gar kein neues Gesetz.

Es gibt Fälle in der Politik, in denen wird Nichtstun zur Pflicht. Der große Theoretiker der Gewaltenteilung, Montesquieu, hat sie beschrieben. Ist es nicht notwendig, ein Gesetz zu erlassen, meinte er, ist es unbedingt notwendig, keines zu erlassen. Denn Gesetze sind, anders als uns der politische Alltag weismacht, keineswegs immer Kompromisse sorgfältig gebündelter und abgewogener Interessen. Sie sind, im Gegenteil, kompromisslos. Sie gestalten, was zuvor jeder für sich modellierte, legen fest, was frei war. Die politische Grundentscheidung ist deshalb nicht, wie ein Gesetz aussieht. Sondern ob man eines macht.

Debatten darüber finden selten statt. Der Fall der nun zur Regelung anstehenden Präimplantationsdiagnostik (PID), des umstrittenen Gentests an mit Labormitteln gezeugten Embryonen, zeichnet sich durch viele Besonderheiten aus. Ganz und gar gewöhnlich ist hingegen, dass man auch hier unterlässt zu diskutieren, was man unterlassen könnte. Die Handlungsnot gilt als festgestellt. Zwei Entwürfe für eine restriktive Zulassung liegen vor, ein dritter für ein Totalverbot folgt. Stellungnahmen und Reden sind geschrieben, nun wird Zustimmung organisiert.

Die gefühlte Alternativlosigkeit hat Gründe. Zum einen wird erwogenes Unterlassen zu Unrecht mit Untätigkeit gleichgestellt. Und zum anderen ist es ein Thema, das wirklich bewegt. Der Mensch war kaum zum Mond geflogen, da dirigierte er seine Keimbahn auf den Labortisch und öffnete sie unendlichen Varianten der Manipulation. Der neuen Technik entspringt im Juli 1978 Louise Joy Brown, der erste in vitro gezeugte Mensch der Welt, vier Jahre später gebären auch deutsche Frauen ihre „Retortenkinder“. So beeindruckend normal sind die künstlich Gezeugten, so sicher die klinischen Resultate, dass man darüber vergisst, an welchen Schicksalshebeln der Mensch hier wieder einmal stellte. Kinderlosigkeit wird plötzlich etwas, dem man sich fügen kann, es aber nicht mehr muss. Eine vollkommen neue Freiheit. Während Päpste und Morallehrer noch grübeln, schaffen die Frauen im Kreißsaal die herbeigesehnten Fakten. Vier Millionen Menschen weltweit wurden ab ovo im Labor zusammengeschmolzen, allein in Deutschland waren es in den vergangenen zehn Jahren über 100 000. Statistisch haben hierzulande zwei Prozent der Neugeborenen ihre Gegenwart auf Erden dem Handwerk der Reproduktionsmedizin zu verdanken. Einwände gibt es keine mehr. Stattdessen einen Nobelpreis für den Erfinder.

Wer je ernsthaft verhindern wollte, dass der Mensch an seine Schöpfung rührt, der hat, so viel steht fest, dramatisch versagt. Die extrakorporale Zeugung, die Herausnahme der Frucht aus dem Leib, ist ein unerhörter emanzipativer Akt. Der Mensch nimmt sein Urgesetz, die Fortpflanzung, erstmals selbst in die Hand. Emanzipiert hat sich auch der Embryo selbst. Erstmals hat er, wiewohl kleiner als ein Stecknadelkopf, eine erwähnenswerte Existenz außerhalb der Mutter. Ein Subjekt, über dem sich im Schein der Laborlampe auch noch Gottes blauer Himmel wölbt. Vielleicht noch keines, das mit Würde ausgestattet ist, aber doch möglicherweise eines mit eigenem Recht. Man kann, wenn man möchte, in dieser Emanzipation den größten Sündenfall seit der Vertreibung aus dem Paradies erkennen. Abtreibung, Mord und Sterbehilfe oder auch nur Verhütung hat es zwar immer gegeben. Diese Attacke auf die Unverfügbarkeit des Lebens jedoch kann selbst der klügste Schöpfer kaum vorhergesehen haben.

So gesehen kann es über die ethischen oder religiösen Fragen, die durch die PID aufgeworfen werden, kaum mehr große Debatten geben. Der Grundkonflikt ist entschieden. Gegen vier Millionen Menschen, die mehrheitlich glücklich sein dürften, unter uns zu weilen, ist schlecht zu argumentieren, ganz zu schweigen vom Glück ihrer Eltern. Doch ist es genau dieser Umstand, der die Diskussion erschwert und jetzt Handlungsdruck auslöst. Man tut so, als wäre die globale Schicksalskorrektur doch noch jederzeit möglich, als gäbe es Rettung durch Umkehr, als glimme in nachgeholten Verboten ein Hoffnungsfunke vorbeugenden Heils.

Deshalb gerät der Streit so schnell ins Fundamentale, wechselt vom Wissen zum Gewissen, wo er dann verbleibt. Am Ende sind alle wichtigen Werte und Überzeugungen so gründlich gefestigt, dass sie zu verhärten drohen.

So war es 2001, beim ersten großen Streit um die PID, damals im Gefolge der Stammzellforschung. Er gibt sich als Verfassungsdiskussion, eine gefeierte demokratische Sternstunde, doch erscheint er rückblickend als politische Schlacht um die Moral der Mehrheit; teils geschlagen ohne Rücksicht auf Amt und Pflichten, wie damals eine Justizministerin beweist, die das deutsche Grundgesetz für ihre christlich motivierten Überzeugungen usurpiert. Indem Artikel eins, die Unantastbarkeit der Menschenwürde, mit religiösen und moralischen Konzepten zum Lebensschutz aufgeladen wird, setzt man unerfüllbare Prämissen und erklärt für Recht, was Meinung oder Glauben ist.

Die zweifelhafte Herrschaft der Interpreten über das Gesetz hat Folgen. Unter den Reproduktionsmedizinern bildet sich, gestützt von Juristen, Ärztevertretern, Publizisten und Politikern, die Überzeugung heraus, die PID sei nach dem 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutz bei Strafe verboten. Das Gesetz ist die deutsche Antwort auf Louise Brown. Im Erschrecken vor den Möglichkeiten hatte man einen Katalog abstrakt formulierter Missbrauchshandlungen entworfen. Die PID ist nicht dabei. Trotzdem fassen die meisten sie darunter, weil dem Wortlaut zufolge bestraft wird, wer die Befruchtung „zu einem anderen Zweck“ als einer Schwangerschaft unternimmt. Oder wer den Embryo „verwendet“, ohne dass er damit dessen Erhaltung bezweckt.

Immerhin, es gibt einen festen Standpunkt, der ethisch zu rechtfertigen ist. Nur bleibt der Standpunkt fest, selbst als sich die Diagnosetechniken fortentwickeln. So muss erst ein Berliner Kinderwunscharzt zum Tabuverletzer werden, um die Debatte wieder anzustoßen. Im Juli 2010 entscheidet der Bundesgerichtshof überraschend, das Embryonenschutzgesetz greife in seinem PID-Fall nicht. Mancher Abgeordnete im Bundestag fällt schlicht vom Stuhl. So kann man eine elementare politische Frage doch nicht einfach entscheiden. Oder doch?

Gleichwohl, die üblichen Reflexe bleiben aus. Es hatte sich etwas geändert, und das hatte nicht nur mit dem Urteil zu tun und den PID-Fortschritten. Ein schwärmerischer Pronatalismus hatte die Politik ergriffen. Das biblische Mantra vom „Mehret Euch“ gelangte zeitgemäß kodiert in die Manuskripte von Parteitagsreden, es schuf Krippenplätze und Elterngeld. Männer, die früher als Spinner galten, weil sie berufliche Ambitionen für Zeit mit ihren Kindern drangaben, standen plötzlich da als Helden einer neuen Vätergeneration.

Vor allem geriet mit der Hinwendung zum Kind wieder die Mutter in den Blick, von der 2001 selten die Rede war. Der Grund lag wohl auch darin, dass die PID eigentümliche Allianzen aus katholischen Bischöfen und ökologischen Feministinnen schmiedete. In ihrem kreatürlichen Fundamentalismus ging ihnen jedes Verständnis ab, zu welcher Selbstdemütigung und Leidensbereitschaft Frauen (und Männer) fähig sind, nur um ein Kind zu kriegen. Die Betroffenen schämten sich und schwiegen; ihnen fehlte jener Stolz, der den gestählten Mein-Bauch-gehört-mir-Kämpferinnen um das Abtreibungsrecht in den siebziger und achtziger Jahren noch den Rücken stärkte: Selbst über seinen Körper bestimmen zu können, und zwar über einen gesunden und fruchtbaren, einen vollkommenen.

Das PID-Urteil des BGH beseitigt den Makel und gibt den Frauen (und Männern) etwas von ihrem entschwundenen Selbstbewusstsein zurück. Es erklärt die Trägerin der Gebärmutter, in die die Eizelle nach Punktion und Befruchtung pflichtgemäß zurückzuspülen war, zum zentralen Akteur, der selbst entscheidet. Eine Frau darf Nein sagen, wenn sie einen Embryo nicht haben will, und weder der Arzt noch sie selbst machen sich strafbar, wenn der Zellball dann „verworfen“ wird, also sterben muss. Ergebnis: Meine PID gehört mir.

Die Rolle des Arztes befreit das Karlsruher Urteil zudem vom Klischee, er sitze dort mit seinem Mikroskop wie ein SS-Mann an der Rampe von Auschwitz. Denn alles, was er unternimmt, unternimmt er, um Leben zur Welt zu bringen. Er folgt dem wichtigsten genetischen Imperativ, dem zur Fortpflanzung. Deshalb, so der Bundesgerichtshof, „verwendet“ er den Embryo auch nicht, wenn er ihm Zellen entnimmt. Der Embryo selbst bleibt gesund und lebt, die entnommenen Zellen könnten sich niemals zu einem eigenständigen Organismus entwickeln.

Betrachtungen, die so lebensnah sind wie juristisch folgerichtig. Strafgesetze müssen als Eingriffe in Freiheitsrechte klar bestimmt sein, Unklarheiten gehen zulasten des Absenders. Der Bundestag hätte 1991 ein ausdrückliches Verbot beschließen können und auch bei der Novelle 2001 hatte er Gelegenheit dazu. Er hat es nicht getan.

2011 wird es nicht leichter. Voll zutage getreten ist der Wertungswiderspruch zur (Spät-)Abtreibung. PID-Gegner sagen, der In-Vitro-Gentest sei ein anderer Konflikt, der andere Lösungen benötigt. Und haben damit Recht, allerdings in einem anderen Sinne, als sie denken. Der Konflikt, ein behindertes Kind auszutragen, stellt sich bei der PID in antizipierter Weise und kann mit weniger dramatischen Folgen bewältigt werden. Ein anderes Problem stellt sich dafür überhaupt nicht: Die Schwangerschaft abzubrechen, wenn der Embryo bereits zu einem neuen Menschen heranreift. Es ist deshalb sinnlos und für die Patientinnen letzthin unzumutbar, eine Beratungspflicht analog zur Abtreibung einzufordern, wie es ein Gesetzentwurf vorsieht. Wozu soll die Beratung ermutigen? Zum behinderten Kind? Dann hätten sich die künftigen Eltern um die PID gar nicht erst bemühen müssen. Niemand braucht Beratung, der seinen Konflikt gelöst hat oder sich nicht in einem Konflikt befindet.

Ist es also nötig, ein Gesetz zu machen? Das PID-Urteil leidet trotz seiner formalen Einschränkung auf „schwere genetische Schäden“ an dem Mangel, die Diagnostik nicht wirksam begrenzen zu können. Nur, welche Freiheiten will man begrenzen? Und warum? Die weltweite PID-Praxis zeigt keinerlei Tendenz zum „Designerbaby“. Die Unterstellung, Eltern wollten Kinder baukastengleich montieren, ist medizinisch ausgeschlossen und sozial weltfremd. Für das größte Geschenk, das Leben, gilt dieselbe Regel wie für alle Geschenke, am schönsten sind Überraschungen. Und selbst wenn die Geschlechtswahl – anders als heute – dereinst zulässig sein sollte, wird man sich, sollte es wirklich vereinzelt Paare geben, die das wollten, weder beim lieben Gott entschuldigen noch in Yad Vashem eine Kerze anzünden müssen. Es wird kein Kind getötet. Es wird eines geboren.

Die Wucht des genetischen Imperativs müsste auch zur Kenntnis nehmen, wer in der Diskussion immerzu vom „Dammbruch“ spricht. Die steigende Zahl künstlicher Befruchtungen verweist nicht auf ethische Aberrationen, sondern auf die Fertilitätsprobleme westlicher Gesellschaften und die Potenz ihrer Reproduktionstechnik. Egal, wie weit es hier noch kommt, niemand, der nicht unbedingt muss, nimmt diese Option in Anspruch. Hier zeigt der Vatikan seine in Jahrhunderten gesammelte Weisheit, Sexualität und Fortpflanzung gehören tatsächlich zusammen. Die statistische Minimalwahrscheinlichkeit Gesunder, ein behindertes Kind zu zeugen, treibt kein Paar vom warmen Bett ins ärztliche Wartezimmer.

Das Embryonenschutzgesetz spiegelt moralische Vorstellungen. Manche erscheinen bleibend, andere wandelbar. Wir würden es als anstößig empfinden, uns selbst zu klonen. Ein solcher Embryo wäre laut Gesetz zu töten, obwohl er sich zu gesundem Leben entwickeln könnte. Das geltende Verbot der Eizellspende könnte sich dagegen als menschenrechtswidrig erweisen, der Straßburger Gerichtshof verhandelt darüber im Februar. Dasselbe Problem hätte ein PID-Totalverbot. Es müsste auch diskutiert werden, ob das Embryonenschutzgesetz mit dem sinnvollen Anliegen kollidiert, aus gesundheitlichen Gründen Mehrlingsschwangerschaften nach künstlicher Befruchtung zu vermeiden. Zugleich ist die PID seit einem halben Jahr ausdrücklich erlaubt, ohne dass Missbrauch bekannt wäre. Nur weil vieles im Fluss ist, muss man keine Dämme bauen. Montesquieu jedenfalls hätte abgeraten – und in ein paar Jahren neu gefragt.

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