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Meinung: Merkels Haftungsgemeinschaft

Die Kanzlerin braucht die große Koalition – für noch größeren Einfluss in Europa

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Wenn man die Bilder von den Koalitionsgesprächen sieht, dann wundert man sich: Fast wie Frischverliebte schauten sich Kanzlerin Merkel und SPD-Chef Gabriel in der vergangenen Woche in die Augen. Und dass die erste Runde in der CDU-Zentrale und nicht an einem neutralen Ort stattfand, lässt unter anderem einen Schluss zu: Hier geht es nicht nur um ein Zweckbündnis – die große Koalition ist durchaus gewollt.

Vor allem trifft das auf die Kanzlerin zu. Nach der Mathematik der Macht würde sie in einem Bündnis mit einem viel kleineren Partner innenpolitisch zwar mehr Gewicht aufbringen. Doch der eigentliche Grund, warum auch Merkel offenbar den Pakt mit der SPD anstrebt, ist ein anderer: Nur so kann sie ihren Handlungsspielraum in der EU absichern und erweitern.

Bisher musste sich Merkel mit dem manchmal widerstrebenden Franzosen François Hollande herumschlagen, und nicht selten schien die Kanzlerin im europäischen Zusammenhang recht isoliert – auch wenn sie später meist den Eindruck vermitteln konnte, sie habe sich durchgesetzt. Mit der großen Koalition aber nimmt sie nicht nur die SPD in Mithaftung, sondern indirekt auch die gesamte sozialdemokratische Parteienfamilie in Europa.

Wenn sich Hollande in Zukunft über die deutsche Politik beschweren will, dann wird er vermutlich eher den politisch befreundeten SPD-Chef Sigmar Gabriel anrufen, statt seinen Frust allein bei der Kanzlerin abzuladen. Umgekehrt kann Merkel ihre Europa-Taktik perfektionieren: Hat sie die SPD erst einmal mit im Boot, dann wird es anderen Regierungschefs umso schwerer fallen, ihren Vorschlägen zu widersprechen.

Tatsächlich erzwingt die Funktionsweise der europäischen Politik geradezu eine große Koalition in Berlin – zumindest sofern die deutsche Politik ihren gestiegenen Einfluss innerhalb der EU verteidigen möchte. Denn genau genommen funktioniert die EU schon seit Jahrzehnten nach dem Muster einer großen Dauerkoalition. Handlungsfähig ist sie nur, wenn sich Europas Christ- und Sozialdemokraten einig sind. Im Vorteil sind dann die, die sich zuerst abgestimmt haben: In Zukunft also wird sich Brüssel wohl noch stärker an Berlin orientieren. Dass Merkel offenbar den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD) als künftigen Chef der Brüsseler Kommission favorisiert, unterstützt diese These.

Bleibt die Frage, was Merkel mit dem ihr möglichen Machtzuwachs anfangen will. Vielleicht sorgt sie in erster Linie vor. Die Zeiten, in denen sie als schwäbische Hausfrau von der Euro-Krise profitieren konnte, sind womöglich bald vorbei. Zu widersprüchlich erscheinen die Ergebnisse ihrer Politik: Krisenstaaten wie Griechenland haben zwar bei der Haushaltssanierung Fortschritte erzielt. Die große Wende aber ist bisher ausgeblieben, weil es dort an nachhaltigem Wachstum fehlt. Merkel wird also Zugeständnisse machen müssen – und wohl auch dem deutschen Steuerzahler erklären müssen, warum der Euro nicht umsonst zu haben ist. Wenn sie die SPD dabei an ihrer Seite weiß, wird es zu ihrem Schaden nicht sein.

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