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Meinung: MY BERLIN Schlaflos in der Stadt

Es war ein sanfter Rutsch ins Neue Jahr. Weil ich das Fest von Sankt Silvester nicht am lauten, vulgären 1.

Es war ein sanfter Rutsch ins Neue Jahr. Weil ich das Fest von Sankt Silvester nicht am lauten, vulgären 1. Januar feiere, sondern am 27. Das ist der Tag, an dem Silvester – ein Papst im 4. Jahrhundert – eine Frau aus einem Brunnen voller zweiköpfiger Frösche rettete. Der armen Frau war schwindelig, nach 15 Tagen und 15 Nächten ohne Schlaf, und deshalb fiel sie irgendwo in Italien in einen Brunnenschacht. Als Nicht-Französin wusste sie vermutlich nicht, dass sie sich durch Frösche-essen und Wassertrinken hätte retten können. Genau genommen brauchte sie Silvester also gar nicht – aber ein Wunder ist ein Wunder.

Glücklicherweise fällt der Jahrestag von Silvesters Rettungsaktion in diesem Jahr auf einen Tag zwischen der Gerichtsverhandlung der Mannesmann-Gang (21. Januar) und dem Urteil im Prozess des Kannibalen von Rotenburg (30. Januar). Ich dürfte also genug Zeit haben, um ein wenig lebensgefährliches polnisches Feuerwerk von meinem Garten aus in die Luft zu jagen. Silvester um einige Wochen zu verschieben, hat seine Vorteile. Man kann alle unerledigten Projekte aus dem Jahr 2003 doch noch fertig stellen. Dezember ist der schlechteste Monat für Arbeit, Januar der beste.

Spannender als der Heilige Silvester ist die Frau, die er gerettet hat, eine Art Schutzheilige der Schlaflosigkeit. Warum konnte sie nicht schlafen? Seit Wochen schlafe ich schlecht, die letzten Tage in Berlin habe ich wie im Nebel verlebt. Schlaf ist die Zeit, wenn all das unsortierte Zeug des Lebens aus dem Abfalleimer, den ein aufkommender Wind umgeschmissen hat, herausgeflogen kommt. Wenn man nicht schläft, bleibt der Abfalleimer zu, das Gehirn verstopft, die Außenwelt ist wie in Watte gepackt. Laut Internet bin ich nicht der einzige – die Stadt ist voller Schlafloser.

Eltern mit unruhigen, schwierigen Babys, Workaholics, verschmähte Liebhaber, Alkoholiker, Menschen mit Schmerzen, Geisterseher, Verängstigte (die alten Griechen glaubten, Schlaf sei Tod ohne Verantwortung). Einige haben mir Ratschläge gegeben: nicht im Bett arbeiten, Milch trinken, Truthahn essen, kein Sport nach 17 Uhr (das versuche ich mal), sich einen Wasserfall vorstellen.

Dostojewski, Hemingway, Faulkner litten alle unter Schlaflosigkeit, berichtet ein Man aus Spandau – nutzen Sie die schlaflose Zeit, um zu schreiben, schreiben, schreiben! Das stimmt zwar, aber hat sich Hemingway nicht auch das Hirn weggepustet? Dieser Rat hat mir am besten gefallen: Man stelle sich vor, in einem Haus mit 101 Zimmern zu sein, und geht von einem in das nächste, knipst das Licht aus und geht weiter. Merkwürdige Dinge spielen sich in Berliner Schlafzimmern ab.

Wie viele Autounfälle auf der Frankfurter Allee gehen auf Schlaflosigkeit zurück? Wie viele Streitereien? Wie viele Ärzte stellen falsche Diagnosen, weil sie nur zwei oder drei Stunden geschlafen haben? Der Wert von Schlaf sollte in einem modernen Wirtschaftssystem, das auf Innovation angewiesen ist, steigen: Das Gehirn ist am einfallsreichsten, wenn es ausgeruht ist. Doch die heutige Arbeitskultur geht davon aus, dass Schlaf Zeit raubt.

Demos, das britische Forschungsinstitut, hat gerade eine Studie fertiggestellt, die eine Rettung für die schlaflose Stadt sein kann: Firmen sollten alle Arbeitsfrühstücke abschaffen, so die Empfehlung. Jeder Mitarbeiter sollte an zwei, vielleicht sogar drei Tagen im Monat Schlaf nachholen dürfen. Jedes große Büro sollte mit einer Hängematte ausgestattet werden. Mittagspausen sollten verkürzt werden (die durchschnittliche britische Mittagspause dauert 27 Minuten), dafür Siestas in den Tagesablauf integriert werden. Schlaflose aller Länder, vereinigt Euch! Ihr habt nichts zu verlieren – außer Eure Träume!

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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