Von Gerd Appenzeller: Nicht wer wählt, entscheidet
Manchmal nehmen die Bürger ihre Politiker ernst. Das ist nicht immer zu ihrem Vorteil.
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Manchmal nehmen die Bürger ihre Politiker ernst. Das ist nicht immer zu ihrem Vorteil. Zum Beispiel diesmal nicht, am Europawahltag. Die deutschen Politiker haben alles getan, damit die Wähler nicht merken, um was es bei der Europawahl geht. Die CDU plakatierte Frau Merkel, die kandidiert jedoch nicht. Die SPD präsentierte viel Steinmeier. Der steht auch erst im Herbst auf dem Prüfstand. Die FDP machte auf blond, aber Silvana Koch-Mehrin wollte wenigstens wirklich gewählt werden. Ansonsten viele Luftblasen, viel Warmlaufen der Wahlkampfzentralen für den 27. September, wenn es um die Mehrheit im Bundestag geht. Und deshalb blieben die Leute zu Hause. Das Wetter war sowieso schlecht, und sich mit Schirm ins Wahllokal schleppen, nur um an einer speziellen Art von Meinungsumfrage teilzunehmen, das bringt’s nicht.
Seit der ersten Europawahl 1979 hat sich die Wahlbeteiligung fast halbiert. Das ist rätselhaft, denn in dem Maße, in dem das Interesse der europäischen Wahlbürger an ihrem Parlament nachließ, wuchsen dessen Kompetenzen. Inzwischen haben die MdEs, wie wir die Mitglieder des Europaparlamentes abkürzen, so viel Einfluss, dass sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Woche nicht zum ersten Mal mit der Rolle Europas beschäftigt. Aber die sinkende Wahlbeteiligung ist Indiz für ein Dilemma. Immer noch klagen die Wähler in den inzwischen 27 Staaten der Union darüber, dass die 736 Europa-Abgeordneten zu wenig Einfluss haben, dass ihnen die Brüsseler Kommission zum Beispiel auf der Nase rumtanze. Also mehr Macht für das Parlament in Brüssel und Straßburg? Um Himmels Willen, tun die gleichen Wähler nun kund. Bloß keine weiteren Entscheidungsbefugnisse von den nationalen auf das eine supranationale Parlament überleiten.
Versucht man, die irrlichternden und eigentlich unvereinbaren Ansprüche auf einen Nenner zu bringen, landet man unweigerlich bei der fast ein halbes Jahrhundert alten de Gaulleschen Idee vom Europa der Vaterländer. Die Reformeuropäer stempelten den eigenbrötlerischen General damals als rückwärtsgewandt und vor allem antiamerikanisch ab, aber dass de Gaulle schon 1962 an ein Europa mit Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Griechenland dachte, verdient doch, wenigstens für einen Tag aus den Archiven der Europageschichte ans Licht geholt zu werden. Die wiederauferstandenen Demokratien Osteuropas lieben Europa – und sich selbst. Sie wollen von ihrer neuen, alten Identität möglichst nichts preisgeben, und auch die wiedervereinten Deutschen pflegen inzwischen neben dem einst von Habermas und Sternberger propagierten Verfassungspatriotismus der Teilungszeit ein ziemlich normales, unaufgesetztes Nationalbewusstsein.
Auch wenn wir wenig Souveränitätsrechte abgeben wollen, begreifen wir schon, dass die Brüsseler Eurokratie ein parlamentarisches Gegengremium und Kontrollgewicht braucht. Regierungs- und Verwaltungsmacht ohne Begrenzung führt zur Ohnmacht des Bürgers. Dies hätten die deutschen Parteien im Wahlkampf deutlich machen können. Genügend europäische Beweggründe hätte es gegeben, den Wähler zu umwerben. Wenn man mit dem Thema Europa niemand hinter dem Ofen vorlocken kann, liegt das am eigenen Phlegma und nicht an fehlenden Argumenten. Dass wir bislang dank EU und Euro vergleichsweise glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise kamen, ist nicht das geringste.
Gerd Appenzeller
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