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Diktator Kim Jong Un beaufsichtigt einen Raketenstart an einem ungenannten Ort in Nordkorea. Die Staatsagentur KCNA publizierte das undatierte Propagandafoto im Oktober 2022.

© Reuters/KCNA (nordkoreanisches Propagandabild)

Passivität ist keine Option: Nordkoreas Nuklearprogramm ist zu gefährlich, um es zu ignorieren

Eine Denuklearisierung Nordkoreas ist mittelfristig nicht erreichbar. Es braucht ein strategisches Umdenken – und endlich mehr Korea-Kompetenz.

Ein Gastbeitrag von Eric J. Ballbach

Im Schatten des russischen Krieges gegen die Ukraine sowie der Zuspitzung des Konflikts zwischen den USA und China treibt Nordkorea den Ausbau seiner militärischen Fähigkeiten kontinuierlich voran.

Auch wenn die gegenwärtige Auseinandersetzung, inklusive der scharfen Rhetorik der nordkoreanischen Führung, vorherigen Krisen ähneln mag, so unterscheiden sich die internen und externen Rahmenbedingungen maßgeblich. Das macht eine Entschärfung des Konflikts ungleich schwieriger.

Nordkoreas neue Nukleardoktrin erlaubt den Erstschlag

Seit der Verkündung eines militärischen Modernisierungsplans im Januar 2021, der sowohl eine Diversifizierung des Raketenprogramms als auch die Entwicklung taktischer Nuklearwaffen vorsieht, sind Nordkorea große Fortschritte gelungen.

Sie umfassen insbesondere die Entwicklung und Erprobung neuer Raketentypen – darunter Trägersysteme für mehrere Sprengköpfe, Hyperschallraketen sowie stärker manövrierfähige Langstrecken-Marschflugkörper und feststoffbetriebene ballistische Kurzstreckenraketen. Ein besonderer Fokus gilt Technologien, mit denen sich Raketen leichter transportieren, schneller starten und besser verstecken lassen.

Im Oktober 2022 meldete das nordkoreanische Propagandaorgan KCNA, das Land habe eine Übung taktischer Nukleareinheiten abgehalten, wobei „das Laden taktischer Nuklearsprengköpfe simuliert wurde“. Neben einer Rekordzahl von mehr als 70 Raketentests im vergangenen Jahr änderte Pjöngjang im September 2022 auch seine Nukleardoktrin.

Die Weltlage kommt dem Kim-Regime durchaus gelegen. Russlands Ukraine-Invasion und der sich verschärfende USA-China-Konflikt haben Pjöngjangs strategische Bedeutung für Peking und Moskau vergrößert. Die politischen Folgen sind bereits sichtbar: Unter anderem wird Nordkorea vorgeworfen, verdeckt Artilleriegranaten an Russland für den Einsatz in der Ukraine zu liefern.

Diese erlaubt nun explizit die Möglichkeit eines atomaren Erstschlags, sollte festgestellt werden, dass ein Angriff gegen „strategische Ziele“ des Landes bevorstehe. Damit wurde die Schwelle zum Einsatz von Nuklearwaffen weiter gesenkt.

Pjöngjangs engere Bande mit Moskau und Peking

Umgekehrt blockieren Russland und China weitere internationale Sanktionen gegen Nordkorea. Das verschiebt den zentralen Sanktionsraum vom UN-Sicherheitsrat hin zu Ad-hoc-Koalitionen, was den Geltungsrahmen neuer Strafmaßnahmen einschränkt.

Zu all dem kommt ein grundlegendes Problem: Wir wissen gegenwärtig viel zu wenig über Nordkorea.

Infolge der Sanktionen und durch einen selbst auferlegten nationalen Lockdown seit Januar 2020 hat Machthaber Kim Jong Un sein Land fast vollständig von der internationalen Gemeinschaft entkoppelt. Vormals bestehende Kommunikationskanäle sind zusammengebrochen, der Abzug von ausländischem Botschaftspersonal sowie NGOs haben zu einer klaffenden Wissenslücke in der Staatengemeinschaft geführt.

Nicht zuletzt hat Nordkoreas Vorgehen in Südkorea eine immer größere Unterstützung für die Entwicklung eigener Nuklearwaffen hervorgerufen. 2022 sprachen sich erstmals mehr als 70 Prozent der Bevölkerung für einen solchen Schritt aus. Vor wenigen Tagen, am 11. Januar, erwähnte sogar Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol diese Möglichkeit explizit – ein Novum seit der Demokratisierung des Landes. Die Maßnahme würde die Proliferationsgefahr in der Region weiter erhöhen.

Ein Fernseher im Bahnhof von Seoul zeigt Nachrichten über Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. 2022 sprachen sich erstmals mehr als 70 Prozent der Südkoreaner für eigene Atomwaffen aus.
Ein Fernseher im Bahnhof von Seoul zeigt Nachrichten über Nordkoreas Diktator Kim Jong Un. 2022 sprachen sich erstmals mehr als 70 Prozent der Südkoreaner für eigene Atomwaffen aus.

© dpa/AP/Lee Jin-Man

Was folgt aus dieser Situation? Nordkorea hat wiederholt verkündet, dass das eigene Nuklearprogramm nicht mehr verhandelbar sei. In der Tat haben alle bisherigen Versuche, Pjöngjang den Besitz von Kernwaffen zu verwehren, nicht zum gewünschten Ziel geführt. Kurz- bis mittelfristig, so die nahezu einhellige Meinung unter Beobachtern, ist eine Denuklearisierung des Landes nicht erreichbar.

Die Staatengemeinschaft klammert sich an Illusionen

Ein realistischerer Ansatz zum Umgang mit Nordkorea ist nötig. Zum einen sind dies zielgerichtete Schritte zwischen Südkorea und den USA – sowie trilateral zwischen Südkorea, USA und Japan – in Richtung einer verstärkten Abschreckung und Verteidigungszusammenarbeit.

Zum anderen sollte der Schwerpunkt der Diplomatie gegenüber Nordkorea verlagert werden: weg vom unmittelbaren Ziel der Denuklearisierung, hin zur Eindämmung der von Pjöngjang ausgehenden Bedrohung.

Zweifelsohne stellt diese strategische Neuausrichtung eine enorme Herausforderung dar. Sie ist politisch nicht unumstritten, und ein Erfolg ist nicht garantiert. Doch sind Fortschritte in der Nordkorea-Frage kaum vorstellbar, solange die internationale Gemeinschaft weiter von unbegründeten Erwartungen ausgeht und an dem illusorischen Ziel festhält, das Land zum Verzicht auf seine Atomwaffen zu überreden oder zu zwingen.

Passivität ist keine Option. Die Krise um Nordkoreas Nuklearprogramm ist schlichtweg zu gefährlich, um sie weiter zu ignorieren.

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