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Hat die Politik die häuslichen Pflegekräfte erneut vergessen?

© Foto: Imago/Martin Wagner

Personalnot verursacht Personalnot : Es müssen mehr Migranten in den Arbeitsmarkt

Die Ampel-Koalition will ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ einführen. Das ist richtig. Deutschland steht im globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte.

Ein Kommentar von Malte Lehming

In der Schule war es so: Wenn die Hälfte der Schüler fehlte, herrschte der Lehrer jene an, die gekommen waren. Wo denn der Rest sei? Das lasse er sich nicht bieten!

Im Berufsleben ist es so: Wenn Arbeitskräfte krank sind oder gekündigt haben, erhöht sich der Druck auf jene, die gesund und anwesend sind. Sie müssen mehr arbeiten, der Stress nimmt zu. Personalmangel verursacht Personalmangel. Ein Teufelskreis.

In Deutschland gibt es zwei Millionen offene Stellen. In vielen Bereichen muss über das erträgliche Maß hinaus gearbeitet werden. Der Deutsche Pflegerat etwa schätzt, dass 2023 bis zu 500.000 Pflegekräfte fehlen. Das bedeutet, dass die Arbeitsbedingungen immer unzumutbarer werden.

Es bedeutet auch, dass der Anteil der häuslichen Pflege steigt, was wiederum dazu führt, dass Frauen, deren Erwerbsbeteiligungsquote ohnehin zu niedrig ist, ihre Arbeitszeit weiter reduzieren, um mehr Zeit für pflegebedürftige Angehörige zu haben.

In Deutschland fehlen 342.000 Kita-Plätze. Das sind rund 60 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Auch in diesem Fall sind es überwiegend Frauen, die entweder kündigen, im Job kürzertreten oder sich gar nicht erst auf eine freie Stelle bewerben, um den Nachwuchs zu Hause betreuen zu können. Das verschärft die Personalnot.

Meldungen dieser Art häufen sich. Rund 175.000 Handwerker werden gesucht. Rund 300.000 Beschäftigte haben in der Corona-Krise die Gastronomie verlassen. Bäckereien, Hoteliers, Apotheker: Überall fehlt Personal.

Auf fatale Weise verstärken sich die Effekte aus steigenden Energiekosten, der Pflegemisere, zu wenig Kita-Plätzen und fehlenden Arbeitskräften. Dramatisch ist vor allem die Dynamik, die das auslöst. Erst tun sich Fachkräftelücken auf, dann wandern ganze Betriebe ab.

Die Bundesregierung hat den Ernst der Lage offenbar verstanden. Sie hat jetzt Eckpunkte für ein – Achtung! Wortungetüm – „Chancen-Aufenthaltsrecht“ vorgelegt. Es ebnet den Weg für eine Reform des Einwanderungsrechtes, die Anfang des kommenden Jahres beschlussfähig sein soll.

Der Entwurf atmet den Geist des Pragmatismus. Er zeigt, dass die Ampel auf dem Gebiet der Einwanderung und des Fachkräftemangels erfrischend unideologisch agiert. Flüchtlingszahlen und Arbeitskräfte werden zusammen in den Blick genommen. Das ist überfällig.

Verstanden wurde, dass Abschiebungen von gut integrierten, aber abgelehnten Asylbewerbern, die weder straffällig geworden sind, noch falsche Identitätsangaben gemacht haben, irrsinnig ist. Außerdem soll es langjährig geduldeten Ausländern ermöglicht werden, ein dauerhaftes Bleiberecht zu erhalten. Berufserfahrungen sollen künftig wichtiger sein als oft nur schwer vergleichbare Abschlüsse.

Auf ausreichende Deutschkenntnisse kann verzichtet werden, wenn die vorhandenen Sprachkenntnisse dem Arbeitgeber genügen. Das zielt in erster Linie auf die IT-Branche. Der Familiennachzug ist nicht an einen Sprachnachweis geknüpft.

Um den Industriestandort Deutschland zu sichern, muss die Einsicht reifen, dass sich das Land in einem globalen Wettstreit um Arbeits- und Fachkräfte befindet. Gering Qualifizierte werden ebenso dringend gebraucht wie Hightech-Spezialisten.

Auf keine Gruppe, kein Potenzial, darf verzichtet werden. Weder auf Frauen noch auf Rentner, weder auf junge Menschen, von denen sich immer weniger fürs Handwerk interessieren, noch auf Migranten und Geduldete. Hilfeempfänger müssen zu Steuerzahlern gemacht werden.

Außerdem muss Deutschland noch attraktiver werden für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten. Dazu gehören staatliche internationale Schulen, genügend Kita-Plätze, englische Ausschilderungen im öffentlichen Verkehr.

Die Ampel-Koalition hat mit ihren Eckpunkten den Anfang gemacht. Ein positives Votum der Wirtschaftsverbände dazu könnte den erforderlichen Mentalitätswandel weiter beschleunigen.

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