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75 Jahre Care: Warum wir Fürsorge anders buchstabieren müssen
Die US-Organisation Care wird 75 Jahre alt. Wie in Nachkriegseuropa hilft sie heute im globalen Süden. Doch der braucht auch andere Weltpolitik. Ein Kommentar

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Schmalz, Milchpulver, Kaffee, Kleidung, Werkzeug. So sahen die Care-Pakete aus, die ab 1945 Europa erreichten. 75 Jahre wird die Organisation in dieser Woche alt, die in der deutschen, vor allem der Berliner Erinnerung eng mit dem Kalten Krieg und der Berlin-Blockade von 1948/49 verknüpft ist. Gegründet wurde sie aber, weil sie die Einteilung der Welt in Freund und Feind nicht mit letzter Härte akzeptieren wollte: Am 27. November 1945, gerade ein halbes Jahr nach der bedingungslosen Kapitulation NS-Deutschlands, schlossen sich 22 US-Wohlfahrtsorganisationen unter dem Namen „Cooperative for American Remittances to Europe“ zusammen, abgekürzt CARE. Während es noch offizielle Politik der alliierten Militärverwaltungen war, den Lebensstandard Deutschlands niedrig zu halten, eines Landes, von dem erneut ein Weltkrieg ausgegangen war, wollten viele Amerikanerinnen und Amerikaner vor allem: Leben retten. Auch das Leben derer, die sich mindestens nicht gegen die Genozide gestellt und in Hitlers Krieg mitgekämpft hatten. Die ersten Care-Pakete durften allerdings erst im Frühjahr darauf nach Deutschland kommen, in jenem 1946, das mit dem Hungerwinter endete, einem der kältesten des 20. Jahrhunderts mit mehreren hunderttausend Toten.
Der Kalte Krieg des Nordens gegen den Süden
Care gibt es noch, die Organisation versorgt nach wie vor Menschen, die wie damals vom Hungertod bedroht sind oder von Seuchen und Krankheiten, gegen die ihre geschwächten Körper keine Chance mehr haben. Neben Lebensmitteln hilft sie in mehr als 100 Ländern weltweit mit Notunterkünften und baut langfristige Infrastruktur auf.
Die Welt ist seither ein entscheidendes bisschen klüger geworden, auch wenn das gewachsene Wissen noch viel zu wenig praktisch wird. Um den Hunger zu bekämpfen, braucht es entschieden mehr als erste Hilfe, statt Reparatur neue Politik. Anstelle harter Winter nach einem Krieg sind es die Erderwärmung und der steigende Meeresspiegel, Überschwemmungen, Missernten, Wirbelstürme, die Menschen zur Flucht zwingen – oft auch vor Kriegen um die rasant knapper werdenden Ressourcen.
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Es herrscht ein kalter Krieg des so genannten entwickelten Nordens gegen die ganze Erde. Erklärt hat ihn die Industrialisierung, und wenn er sich vor 75 Jahren noch nicht so klar erkennen ließ, dann braucht es inzwischen schon einen hohen Aufwand an Realitätsverleugnung, um ihn zu übersehen. Sogar die Kriegsschauplätze sind mehr geworden. Die großen Trawlerflotten im Norden der Welt fischen das Meer vor Afrika leer, die Existenzgrundlage der Küstenbevölkerung dort, europäische Sicherheitstechnik und Grenzbewaffnung auf dem Nachbarkontinent und europäische Pakte mit Folterregimen und Fassadendemokratien hindern die Opfer dieser Politik sogar immer effektiver daran, vor ihr zu fliehen.
Es ist längst an der Zeit, „Care“ auch als Fürsorge für unseren Planeten neu zu buchstabieren. Es braucht gerechte Handelsbeziehungen, Verzicht auf Überfluss und Verschwendung hierzulande, damit Menschen anderswo überleben und hoffentlich auch menschenwürdig leben können. Covid wird den üblichen Vorweihnachtskonsum in den kommenden vier Adventswochen vermutlich herunterdimmen - viel Zeit zum Nachdenken darüber, was wir wirklich brauchen.
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