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© Illustration: Rainer Schwalme

Berliner Arbeitswelten: Wer früher geht, ist schneller fort

Sie werden getrieben: Was Berlins Kreativarbeiter beim Wettlauf um die höchste Wochenarbeitszeit alles erleben können.

Ein gewöhnlicher Montagvormittag in Berlin-Mitte. Heerscharen von Kreativen sind auf ihrem Weg zur Arbeit. Wobei sich Arbeit zu sehr nach Malochen anhört. „Bin gleich in der Agentur“, hört man einen in das Headset seines Handys rufen, während die Hände mit dem Balancieren von Coffee-to-go, Bagel und Laptop beschäftigt sind. Mit MP3-Player und Freisprechanlage verkabelt schwebt der Angehörige dieser Spezies wie in einer Blase durch die Spandauer Vorstadt, vorbei an bedauernswerten Menschen, die ihre Zeit in Fabriken, Behörden oder gar auf Arbeitssuche verbringen müssen. Sein Arbeitsplatz hingegen verströmt die Aura von Freiheit, Kreativität und Spaß. „Agentur“ – das klingt doch viel mehr nach 007 und Abenteuer als nach 08/15 und verstaubter Dienststelle. Und ist nicht sogar ein großer deutscher Verwaltungsträger vor einigen Jahren auf diesen Zug aufgesprungen?

Der Kreative öffnet die Tür seines Arbeitgebers und steht im Flur eines von 26 000 Unternehmen, die zur Berliner Kreativwirtschaft gehören. Bereits während seines Vorstellungsgesprächs hatte ihn die Atmosphäre der Firma fasziniert. Das umfangreiche Sortiment an schicken Hochglanzmagazinen, die von Trendbewusstsein zeugen. Espressomaschinen im Dauerbetrieb, mit deren Hilfe auch der längste Arbeitstag locker überstanden wird. Die großen Fensterfronten, durch deren Scheiben das Sonnenlicht auf die zeitgenössische Kunst an den ansonsten kahlen Altbauwänden fällt. Nein, das ist kein profaner Arbeitsplatz – dieses Büro ist eine Sphäre der Kreativität in vollendet veredeltem Spitzendesign. Dazu kommt die tolle Stimmung, die in der Firma herrscht. Seinen Chef darf der Kreative seit seinem ersten Arbeitstag duzen – Herr Schmidt heißt hier für alle nur Thomas, man ist ja schließlich eine große Familie. Angesichts solch eines Betriebsklimas ist die Tatsache, dass die Vergütung seiner Vollzeitstelle nicht einmal zur Deckung der Lebenshaltungskosten reicht, gar nicht mehr so schlimm. Besser mit wenig Geld direkt am Puls der Zeit als mit Tarifvertrag am Fließband, oder? Der Monitor mit dem angebissenen Obst auf der Rückseite surrt leise, als der Kreative ihn anschaltet. Apropos Obst – erst mal einen Griff in die bunte Früchteschale und einen Latte Macchiato zum Wachwerden. Danach, wie alle hier, erst mal zu Twitter und Spiegel Online – mal sehen, was so los ist in der vernetzten Welt, von der man nun ein wichtiger Teil ist.

Die erste Woche verläuft super. Am späten Freitagnachmittag schaut Herr Schmidt, äh, der Thomas um die Ecke. Ob man am Wochenende mal für ’ne Weile im Büro vorbeikommen könne, das wichtige Projekt müsse ja am Montag stehen und davon sei man leider noch weit entfernt. Schade, aus dem Ausflug ins Grüne scheint nichts zu werden. Dem Thomas kann man auch irgendwie keinen Gefallen abschlagen. Das Angebot, dafür nach der Arbeit noch zusammen in den Biergarten zu gehen, nimmt der Kreative dankend an. Doch wann sich höflich in die tatsächliche Freizeit verabschieden? Die Kollegen verharren auch nach Stunden duldsam auf der Bierbank und scheinen an den Lippen des Chefs zu hängen. Die Worte, die über die Gläser hinweg am häufigsten ausgetauscht werden, lauten „Kunde“, „Projekt“ und „Kostenvoranschlag“. So hatte sich der Kreative seinen Freitagabend nicht vorgestellt.

Die nächste Woche beginnt mit dem Montagsmeeting. Was man am Wochenende so gemacht habe – außer zu arbeiten –, lautet die Frage, mit der die Besprechung schließt. Reihum gibt jeder ausführlich Auskunft über seine privaten Aktivitäten. Diese Runde scheint ein festes Ritual zu sein und dient wohl als Ersatz für das spontane, ungezwungene Gespräch in der Mittagspause. Mittagspause? Wenn mit der vertraglich vereinbarten Stunde pro Tag das hastig vor dem Bildschirm hinuntergeschlungene Sandwich vom Bäcker gegenüber gemeint war, dann hatte man da wohl was falsch verstanden. Wie viele der allein 114 000 sozialversicherungspflichtigen Berliner Kreativen ihre Mahlzeit wohl auf diese Weise einnehmen? „Eine Firma, in der die Mitarbeiter mehr oder weniger pünktlich in den Feierabend gehen, macht keinen guten Eindruck nach außen. Schließlich kann man ja nicht einfach den Stift fallen lassen und nach Hause gehen.“ Diese Erleuchtung verkündet der Chef mit solcher Überzeugungskraft, dass der Kreative keinen Gedanken an deren Wahrheitsgehalt verschwendet. Und dem Kreativen leuchtet ja ein: Der Angestellte, der sich nach getaner Arbeit auf den Heimweg begibt, anstatt bis in den späten Abend im Büro verfügbar zu sein, lässt die Gewinne des Unternehmers stagnieren. Und dass der Arbeitgeber hiermit ein Problem hat, kann ja jeder nachvollziehen. Auch beim heiklen Thema Urlaub herrscht in der Firma folgender Grundsatz: Wer sich für so entbehrlich hält, dass er seinen Anspruch auf Erholung tatsächlich einfordert, der möge dafür im Urlaub zumindest ständig verfügbar sein. Die Nichtanwesenheit im Unternehmen bedeute ja noch lange nicht, dass man sich der Kundenbetreuung entziehen könne. Und der Kunde ist in der Kreativwirtschaft schließlich nicht nur König, sondern der Lebensmittelpunkt, um den alle Gedanken zu kreisen haben – am besten rund um die Uhr.

Die Uhrzeit! Der Kreative wirft einen Blick auf die Anzeige am oberen Bildschirmrand. Das laute Klackern der Tastatur, auf welche die Kollegen eindreschen, als würden sie pro Dezibel bezahlt, stört seine Konzentration. Dabei muss das Projekt doch spätestens heute Abend fertig sein. Aufopfernd setzt er alles daran, die Deadline einzuhalten. Puh, endlich geschafft. Eine knappe Stunde nach Feierabend schließt er zufrieden die Tür der Firma hinter sich. Doch war der Blick des Chefs nicht irgendwie merkwürdig gewesen? Das „Schönen Abend noch!“ nicht einen Tick zu nachdrücklich? Außerdem, warum sind denn die Kollegen alle noch vollauf beschäftigt? Die Uhr scheint nicht falsch zu gehen. Hatte er vor einigen Tagen das Wort „Beamtenmentalität“ im Zusammenhang mit seinem Namen vernommen? Mit einem unguten Gefühl tritt der Kreative den Heimweg an. Mit Schaudern denkt er an die lange Schlange von Aspiranten, die sich täglich um seine Stelle bewerben und mit Vergnügen für weniger Geld mehr zu arbeiten bereit sind. Oder – wie so viele Angehörige der „Generation Praktikum“ – sogar ohne Vergütung bereitwillig ihre Dienste zur Verfügung stellen, frei nach dem Motto: Lieber ein unbezahltes Praktikum als gar kein Praktikum. Langsam dämmert ihm, dass die 21 Milliarden Euro Umsatz, die pro Jahr von der Berliner Kreativwirtschaft gemacht werden, wohl nicht zuletzt auch auf die Selbstausbeutung zahlreicher Kreativarbeiter zurückzuführen sind.

Die Klausel in seinem Arbeitsvertrag, die besagt, dass alle anfallenden Überstunden mit dem Gehalt abgegolten seien, kam ihm schon bei der Unterzeichnung fragwürdig vor. Ob diese Regelung wohl mit dem Transparenzgebot vereinbar ist? Aber bevor Hartz IV winkt, greift man nach jedem Strohhalm, oder nicht? Überstunden kannte der Kreative natürlich auch von früheren Jobs, in denen die ausnahmsweise vorkommende Mehrarbeit jedoch bezahlt oder zumindest durch Freizeit ausgeglichen wurde. Davon kann nun keine Rede mehr sein. Die Schere zwischen vertraglich vereinbarter und realer Arbeitszeit scheint immer weiter auseinanderzugehen. Lebe wohl, verdienter Feierabend. Tschüss, schönes Privatleben. Mit Bestürzung sieht der Kreative zu, wie sein ohnehin schon lächerliches Gehalt mit jeder weiteren Überstunde an Wert verliert. Heute scheint unbezahlte Mehrarbeit keinesfalls die Ausnahme zu sein, sondern mittlerweile in der Kreativwirtschaft sogar zum guten Ton zu gehören. Und das sehen nicht nur die Arbeitgeber so, die kein schlechtes Gewissen dabei haben, ihre Angestellten auf diese Weise auszunutzen – was ein Zyniker unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten sogar als geschickte Taktik bewundern könnte. Vielmehr sind auch viele Kollegen dieser Ansicht und scheinen einen inoffiziellen Wettlauf um die höchste Wochenarbeitszeit zu führen. Wer zuerst kommt und zuletzt geht, hat beim Chef die Nase vorn. Ist es in dieser Branche etwa so, dass sich der Wert eines Angestellten proportional zur Dauer seiner täglichen Anwesenheit in der Firma verhält? Dem Kreativen kommt der Claim eines großen deutschen Baumarkts in den Sinn. Ja, natürlich gibt es immer was zu tun, aber wo zieht man denn dann die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit? Existiert diese Grenze überhaupt noch? Oder ist sie bereits bis zur Unkenntlichkeit verschwommen? Jedes Mal, wenn er das Büro verlässt, hört der Kreative eine innere Stimme, die ihm zuflüstert, dass er doch ruhig noch eine Weile an dem neuen Projekt hätte weiterarbeiten können, anstatt sich in die Freizeit zu verabschieden. Oder hatte dies sein Chef gesagt? Verwirrt spricht der Kreative seine Kollegen auf die Situation an. Die Meinungen schwanken zwischen „Na ja, das gehört hier nun mal dazu“ und „In dieser Branche ist das doch normal“. Seltsam. Um zu verstehen, dass sein Chef mit dieser Situation kein Problem hat, muss man nicht zwölf Semester BWL studieren. Aber warum machen die Angestellten dieses Spiel ohne Murren mit? Wie der Frosch, der das immer heißer werdende Wasser nicht bemerkt, in dem er seelenruhig sitzt, scheinen sie sich über die Verhältnisse nicht mehr zu wundern.

Während seiner Mittagspause vor dem Bildschirm versucht der Kreative zu überschlagen, wie viele Berliner Arbeitslose man durch eine Verringerung der Überstundenzahl in Lohn und Brot bringen könnte. Vor Schreck über die Höhe der Zahl stößt er beinahe seinen Latte Macchiato um. Mit Unverständnis blickt er seinen Kollegen an, der dem Chef jeden Wunsch von den Augen abliest und am liebsten sein Bett unter dem Schreibtisch aufschlagen würde. Dieser hatte ihm angesichts seiner Verwirrung über die firmeninterne Arbeitszeitregelung einen brillanten Vorschlag unterbreitet. Wenn er abends nicht so lange bleiben wolle, könne er doch einfach morgens früher kommen. Genial. Interessanterweise findet eine Verwandlung mit dem eifrigen Kollegen statt, sobald der Chef außer Haus ist. Pünktlich auf die Minute wird Feierabend gemacht. Die Mittagspause wird von null auf sechzig Minuten ausgedehnt. Ob die emsige Betriebsamkeit des Kollegen die ganze Zeit über ausschließlich von der Anwesenheit des Arbeitgebers abhing?

Nach einigen Wochen haben die Espressomaschine und der Obstkorb ihren Reiz verloren. Zunehmend scheinen sie nur mehr banale Lieferanten von Zucker und Koffein zu sein, dem Treibstoff der Kreativwirtschaft. „Pling!“ – eine Mail von Thomas. Ob man mal kurz für ein Gespräch rüberkommen könne. Durch Kollegen hatte der Chef dem Kreativen schon zweimal ausrichten lassen, dass das Wahrnehmen von Mittagspause und Feierabend ihn sicher nicht zum Mitarbeiter des Monats machen würden. Er ahnt, was nun kommt. Aus dem Augenwinkel sieht er den Berg von Bewerbungen, die sich auf dem Schreibtisch des Chefs stapeln. Während er einige Tage später seinen eigenen Schreibtisch räumt, fällt ihm ein, was die lateinische Wendung „Agentur“ wörtlich bedeutet. „Sie werden getrieben werden“, lautet die deutsche Übersetzung. Viele Kreativarbeiter sind jedoch inzwischen dazu übergegangen, sich selber zu treiben. Und kann sich ein Unternehmer etwas Schöneres wünschen? Seine Angestellten streiten sich darum, wer länger umsonst arbeiten darf. Der Kreative zieht die Tür der Firma zum letzten Mal hinter sich zu. Trotz ungewisser Zukunft fühlt er sich gut. Den Heimweg tritt er zum ersten Mal ohne schlechtes Gewissen an. Und es stimmt tatsächlich: Wer früher geht, ist schneller fort.


Der Autor ist Kulturwissenschaftler. Von ihm ist kürzlich das Buch „Die Reise zum Mond“ erschienen (Logos-Verlag, Berlin).

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