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Meinung: Zugeschaut und mitgebaut

Von der Avantgarde zum Mainstream: Die Piraten wollen lernen – das müssen sie jetzt auch

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Sie fühlten sich schon vor der Hafeneinfahrt sicher: Die Wahllokale waren noch nicht geschlossen, da lud die Piratenpartei bereits per E-Mail – „Ahoi sehr geehrte Damen und Herren“ – zur Pressekonferenz am Tag danach ein. Programmpunkt: „Einführung in die Arbeitsweise unserer Fraktion.“ Da wähnten sich die Piraten schon drin im Berliner Abgeordnetenhaus. Eine Frechheit, ein Wagnis, aber kein allzu großes, denn die Umfragen wurden durch die Prognose nach Schließung der Wahllokale weitgehend bestätigt.

Das Vorpreschen der politischen Freibeuter könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die junge Partei, die fast genau vor fünf Jahren in Berlin gegründet wurde, auf die Arbeit nach der Wahl ein bisschen besser vorbereitet hat als auf die Debatten im Wahlkampf. Denn da wirkten die Kandidaten oft nicht themensicher. Der große Vorteil dieses neuen, entwaffnend naiven Politikertyps scheint ohnehin die Lernfähigkeit zu sein: Man steht zu seinen Erfahrungs- und Wissenslücken und glaubt fest daran, sie mit Hilfe der versammelten Intelligenz seiner Internetcommunity überwinden und gemeinsam an Lösungen arbeiten zu können.

Dass diese Losung Erfolg hat, deutet darauf hin, dass ein bis vor kurzem noch avantgardistisches, digital befeuertes Lebensgefühl in den Mainstream einmündet. Die anderen Parteien können von den Piraten lernen, dass das Internet mehr ist als ein weiteres Medium: eine Kraft, die unsere Gesellschaft und unseren Alltag verändert, die aber von Menschen, die damit umgehen können, beherrschbar und produktiv einsetzbar ist.

Es war ein Fehler der Etablierten, diese neue Partei so lange zu unterschätzen. Und als sich dann die Erfolgsprognosen zum Ende des Wahlkampfs hin verdichteten, haben die anderen Kandidaten noch einmal falsch reagiert. Durch Einlassungen von gewollter Ignoranz (Henkel) über verunglückte Veralberung (Künast) bis zu staatstragender Warnung (Wowereit) haben sie den Piraten noch mehr Wind in die Segel geblasen. Denn nichts dürfte deren junge, sich als subversiv, aber nicht fundamental-oppositionell empfindende Zielgruppe mehr ärgern, als ignoriert, nicht ernstgenommen oder an den Pranger gestellt zu werden.

Der Regierende Bürgermeister stempelte die Piraten zur Protestpartei ab. Wenn doch nur alle Protestparteien so wären wie sie! Mit ihnen kommt keine populistische oder ideologisch verbohrte Truppe, die gegen alles ist, ins Abgeordnetenhaus. Diese junge Community will zuschauen und mitbauen, das ist der Eindruck zurzeit. Diesen Eindruck muss die Partei jetzt durch kreative, konstruktive Arbeit bestätigen. In den Mühen der Ebene, die sie nun beschreiten, dürfen sich auch Piraten nicht mehr allzu sicher fühlen.

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