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Anita Stangohr

© privat

Nachruf auf Anita Stangohr: Wie eine Explosion

Ob sie mit ihrem Leben zufrieden sei, wurde sie gefragt. Beruflich ja, privat eher nicht.

Stand:

„Kannst du mir Erdbeeren mitbringen?“, fragt Anita ihre Freundin Christel. Also bringt Christel ihr eine Schale mit. Anita steckt die erste Erdbeere langsam in den Mund – dann noch eine und noch eine. „Gibt es denn auch schon Kirschen?“ Daraufhin bringt Christel Kirschen mit. Nachdem diese aufgegessen waren, sagt Anita: „Kannst du mir beim nächsten Mal mein Eau de toilette von zuhause mitbringen?“ Als Anita die Flasche in der Hand hält, öffnet sie den Verschluss und riecht daran. Einen Moment lang, dann noch einen und lehnt sie sich in ihrem Bett auf der Palliativstation zurück und schließt die Augen. Zufrieden.

Es war das Jahr des Mauerbaus, als sich Christel und Anita kennenlernten. Anita war 20, hatte ihre Erzieherinnenausbildung eben erst beendet und wohnte noch bei ihrer Mutter. Das war damals üblich: Die Frau zieht aus, wenn sie einen Mann geheiratet hat. Der war in Anitas Lebensplan jedoch vorerst nicht vorgesehen. Vorgesehen war ihr Berufliches vorankommen, auch ohne Abitur.

Der Vater war früh gestorben, ein Bauunfall. Die Mutter, eine Hinterpommerin, zog die ältere Schwester und Anita alleine groß. Das Geld war knapp, das Essen manchmal auch, die Mutter hielt die kleine Familie mit Strenge, Disziplin und Gottesglaube zusammen. Sie war Sachbearbeiterin bei der Rentenversicherung. Eng war es zuhause, in jeglicher Hinsicht. Anita aber wollte raus, wollte unbedingt studieren und ging zunächst an die Katholischen Schule für Sozialarbeit.

Flausen im Kopf

Die Pausen zwischen den Seminaren verbrachte sie mit Christel gegenüber am Lietzensee, wo sie ihre Stullen aßen und sich übers Leben unterhielten. Christel war etwas älter, hatte schon eine eigene Wohnung und lud Anita ein, mit ihr und ihren Freundinnen ins Kino oder tanzen zu gehen. „Anita hat nicht einfach nur gelächelt, sie hat immer voll gelacht, wie eine Explosion.“ Wenn Christel bei Anita klingelte, um sie abzuholen, schaute die Mutter böse. Nein, sie mochte diese Christel gar nicht, die ihrer braven Tochter Flausen in den Kopf setzte.

Es dauerte nicht lange, bis Anita sich Jobs suchte, Putzen, Kinder betreuen, alles für eine eigene Wohnung.

Pfarrer Johannes Drews war Seelsorger im Gefängnis in Brandenburg. Als die alten DDR-Gefangenen nach der Wende eine Revolte starteten, weil die alten Strafen eins zu eins übertragen werden sollten, war er es, der vermittelte. Anita gab dort später Kurse für Gefangene. Anfang der 2000er hat sie den Pfarrer im Ruhestand kennen gelernt.

Jetzt, vor ihrem Tod, wünscht sich Anita, dass er sie beerdigen soll. Sie ruft ihn an, er lehnt ab. Beerdigungen mache er schon lange nicht mehr, außerdem sei er selber krank, habe nur noch 20 Prozent Lungenkapazität. Doch dann entscheidet er sich um: „Weißt du, Anita, für dich mache ich das.“ Sie widerspricht, das gehe doch nicht. Er: „Das entscheide immer noch ich.“ Also macht er sich auf den Weg, mit seinem mobilen Atmungsgerät, eine Stunde Fahrt, eine Stunde Gespräch, eine Stunde Rückfahrt, so lange wird der Sauerstoff reichen. Als Anita ihn hereinkommen sieht, strahlt sie über beide Ohren.

Anita hat Karriere gemacht. Erst als Sozialarbeiterin beim Caritasverband, dann beim Jugendamt in Tiergarten, sie wurde Beamtin. Um Kinder hat sie sich gekümmert, deren Eltern sich nicht mehr kümmern konnten. Anita ließ sich auf die Kinder ein, hörte ihnen zu. Wenn Freunde sie um Kinderbetreuung baten, hat sie immer Ja gesagt. Nur eigene bekam sie nicht. Ja, es gab eine, vielleicht anderthalb große Lieben in ihrem Leben. Doch der eine Große wollte sich nicht binden, da war nichts zu machen. Und der andere? „Naja, viel geredet hat sie darüber nicht“, sagt Christel. Nur im Bett, auf der Palliativstation, als Christel sie fragt, ob sie mit ihrem Leben zufrieden sei, sagt Anita: Beruflich ja, privat eher nicht.

Wo es wehtat

Anita gab ihre Beamtenstelle auf, um Psychologie zu studieren. Erst arbeitete sie in einer Praxis mit Erwachsenen, dann wechselte sie in den Schulpsychologischen Dienst. Wieder hörte sie den Kindern zu, die es schwer hatten. Sprach mit alleinerziehenden Müttern, besuchte sie, half mit der Wäsche, sorgte für Struktur im Alltag, einfach so.

Als Dozentin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen unterrichtete sie das Fach „Methoden in der Sozialarbeit“, war Mitglied in psychologischen Verbänden und Gruppen. Bei ihren Freundinnen vergaß sie mitunter, dass es vielleicht besser wäre, einfach nur zuzuhören und nicht gleich zu analysieren. „Du musst dich trennen“, war nicht unbedingt das, was man hören wollte, wenn man gerade angefangen hatte, das Problem zu schildern.

„Sie hatte diese Art, genau darein zu piksen, wo es wehtat“, sagt Tenzin Peljor, ein buddhistischer Mönch. Jeden Freitag holte sie ihn mit ihrem Auto ab, hielt ihm die Autotür auf, hatte Stullen und Tee dabei. „Eine Rundumversorgung, obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte.“

Sie fuhren in die JVA Brandenburg. Im Haus 3 unterrichteten sie Meditation. Im Haus 5 brachten sie Gefangen mit Drogenproblemen Entspannungsmethoden bei. Immer wieder ging es um die Frage, wie man Ruhe in den Kopf bekommt, wie man mit Emotionen umgeht und welche Emotion zur Straftat geführt haben könnte. Anita hatte dabei so eine unglaubliche Wachheit, fand die Widersprüche sofort, auch was die Person jetzt brauchen könnte, alles benannte sie. Wenn die Gefängniswärter ihre Macht demonstrieren wollten, dann sagte Anita ihnen das auf den Kopf zu. Das führte zu Krach, was Anita kaum zu stören schien.

Der Palliativarzt fragt sie, ob sie noch was braucht. Anita schüttelt den Kopf. Ihr gehe es gut. Sie brauche jetzt wirklich nichts mehr.

Zur Beerdigung spricht Pfarrer Drews, spricht Tenzin Peljor. Neben den Freunden stehen drei ehemalige Gefangene.

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