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Demonstranten mit Kreuzen im Strahl der Wasserwerfer. Der 14. April 1968 auf dem Kurfürstendamm.

© picture-alliance/ dpa

1968 - 50 Jahre Studentenrevolte: Sie brachten die Welt in Aufruhr

Der Protest gegen den Vietnam-Krieg war die erste virale Medienrevolution. Die Proteste hatten unterschiedliche Motive, gemeinsam war Ihnen der Wunsch nach Internationalität.

Hannah Arendt, die große Sympathie für die 68er-Revolte und ihre Symbolfigur Daniel Cohn-Bendit hegte, riskierte in einem Brief an Karl Jaspers vom Juni 1968 die Prognose: "Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848." Die bürgerliche Revolution hatte sich von Paris aus über den gesamten Kontinent verbreitet, weshalb Marx und Engels in ihrem Kommunistischen Manifest von einem Gespenst namens Revolution schreiben konnten, das in Europa umging. 120 Jahre später war nicht Paris der Ausgangspunkt einer Revolution, sie hatte längst vor dem Mai 1968 in Berkeley und Berlin begonnen und erreichte – nunmehr als echte Weltrevolution - so unterschiedliche Schauplätze wie Warschau und Dakar, Mexiko City und Prag, Tokyo und Kent/Ohio. Das sieht man nicht erst rückblickend aus der Vogelperspektive, erkennbar war das schon 1968 aus der Froschperspektive zum Beispiel in der Krakauer oder Freiburger Provinz.

Geeint hatte die Protagonisten die Empörung über den US-amerikanischen Krieg in Vietnam, doch unterschieden sie sich dabei in einer Reihe lokal begrenzter Protestmotive. Das wirksamste Band war die TV-Berichterstattung. "The whole world is watching", konstatierte der Anführer des amerikanischen SDS (Students for a Democratic Society), Todd Gitlin, diese erste Medienrevolution, die eine Gleichzeitigkeit entfernter Ereignisse und eine Konvergenz disparater Motive schuf. Die Protestbewegung wurde beobachtet, sie wusste das – und reagierte darauf. Und sie hatte einen jugend- und popkulturellen Untergrund, der eine gemeinsame Sprache lieferte. Die "Woodstock Nation" war keine bloße Phrase.

In Technik und Wirtschaft nennt man solche Ausbreitungen "Diffusion", für besonders ansteckende Entwicklungen wird heute das Adjektiv "viral" verwendet. Virale Diffusion vollzieht sich, wenn Neuerungen von einem Unternehmen auf ein anderes übernommen werden, aber genauso können soziale, kulturelle und politische Elemente über Grenzen hinweg 'abgeschaut', imitiert und auf lokale Verhältnisse adaptiert werden. Gut erinnern kann sich der Autor, dass er als Schüler in der Zeitschrift "Neue Kritik" des deutschen SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) einen Bericht über das Free Speech Movement vom SDS-Vorsitzenden Reimut Reiche las, der ihn sogleich für jenes Recht einnahm, zum Vietnamkrieg eine abweichende Meinung zu haben, das die Free Speech-Bewegung an der amerikanischen Universität Berkeley reklamierte.

Fidel Castro, Che Guevara, Mao wurden recht kritiklos als Ikonen anerkannt

Den Initiatoren der deutschen Revolte – darunter der mit einer Amerikanerin liierte Rudi Dutschke – war viel bewusster als heute, dass der deutsche SDS, wie der Berliner Studentenführer es ausdrückte, vom US-Namensvetter (Students for a Democratic Society) lernen konnte. Denn nicht die Barrikade ist das primäre Symbol des globalen Protests, sondern das Teach-in, auf dem kontrovers diskutiert wurde. Und das Lausbubengesicht des Daniel Cohn-Bendit vom 6. Mai 1968, als er vor der Sorbonne mit einem Lächeln die Staatsmacht herausforderte. Dass einige Tage und Barrikadennächte später gegen Cohn-Bendits Ausweisung aus Frankreich skandierten: "Wir sind alle deutsche Juden!", war ein mächtiges Zeugnis des 68er Internationalismus.

Die Bewegung nahm weniger (wie weiland die sozialistischen Internationalen) die entwickelten Industriegesellschaften in den Blick als (im Anschluss an die zum Herrschaftsinstrument der Sowjetunion verdorbene Komintern) die "Bauerngesellschaften" des Südens, die sich damals teils friedlich, teils durch bewaffnete Guerillakämpfe entkolonialisierten. Unterstützt wurden sie dabei namentlich von Fidel Castro und Che Guevara, auch von Mao Zedong, die seinerzeit trotz der unter ihren Regimen stattfindenden Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen und der Gräuel der chinesischen Kulturrevolution recht kritiklos als Ikonen anerkannt wurden. Der (westliche) Maoismus wurde zum Kitt der Revolte, zumal er auch eine Kritik an den Kommunistischen Parteien des Westens erlaubte, die vom antiautoritären Flügel der 68er als Gegner gesehen wurden.

Zwar beherbergen US-amerikanische Campus-Universitäten bis heute das ganze Spektrum des linken Radikalismus, aber in der dortigen Revolte spielte der Vietnam-Protest eine zentrale Rolle, der ja, wie man in Paul Austers jüngstem Roman "4321" noch einmal gut nachempfinden kann, eine existenzielle Dimension hatte – vielen Studenten drohte die Abkommandierung in den südostasiatischen Dschungel. Ebenso wichtig war die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die einen virulenten Rassismus bekämpfte. Beide Bewegungen brachten auch in den USA einige Militanz hervor, aber der Anschluss an eine proletarische Revolution und das ideologische Repertoire des Marxismus-Leninismus war auf der anderen Seite des Atlantik wenig gefragt, wo sozialistische oder gar kommunistische Bewegungen nie Anklang gefunden hatten. Hier liegen die Ursprünge der "Regenbogen-Koalition", als die sich die Demokraten neu formierten.

Rudi Dutschke erwartete die "Globalisierung der revolutionären Kräfte"

In Europa drängten viele 68er-Protagonisten in die "Produktion", es entstanden eine ganze Reihe von K(ommunistischen Nachfolge)-Parteien, die sich zum einen Teil an Peking, Tirana oder Pjöngjang ausrichteten, zum anderen Teil trotz der brutalen Niederschlagung des Prager Frühlings freundliche Beziehungen zur Sowjetunion und DDR pflegten. Das zerriss die internationale Revolte ein zweites Mal, denn in Ostmitteleuropa konnte man mit Anhängern des "realexistierenden Sozialismus" wenig anfangen. Diese Blindheit betraf noch die Solidarnosc-Gewerkschaft in den 1980er Jahren, und die damit aufgerissene Kluft ist bis heute nicht überwunden. Auch die eurokommunistischen Parteien in Italien, Frankreich und Spanien, die von Moskau Abstand nahmen, konnten daran wenig ändern.

Welchen Schwerpunkt der studentische Internationalismus legte, wurde klar beim legendären "Internationalen Vietnam-Kongress" im Februar 1968 an der Berliner Freien Universität. Versammelt war die Crème der internationalen Protestbewegung, und im Referat Rudi Dutschkes fiel explizit der Terminus "Globalisierung", der heute meist anders begründet wird: "Jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, muss heute notwendigerweise global sein. Diese Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und in der wir an der menschlichen Emanzipation arbeiten. In den weltweiten Demonstrationen liegt in einem antizipatorischen Sinne so etwas wie eine revolutionäre Globalstrategie."

Das existenzielle Pathos fehlte hier auch nicht: "Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und keine Phrase." Dutschke und Genossen waren zerrissen zwischen ihren humanitären und im Grunde pazifistischen Neigungen und dem Wunsch, der Gewalt etwas, auch Gewalt einschließendes, entgegenzusetzen, ganz im Sinne des nach Südamerika gegangenen Che Guevara, der gefordert hatte: "Unsere ganze Aktion ist eine Kriegsansage gegen den Imperialismus und ein Ruf nach der Einheit der Völker gegen den großen Feind des Menschengeschlechts: die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam."

Der Widerstand gegen Kolonialismus und Imperialismus war in dem Sinne transnational, dass die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten erlaubt, ja obligatorisch wurde und dabei nationalstaatliche Grenzen per se überschritten wurden - im Kampf der Dörfer gegen die Städte genau wie in der linksradikalen Genossenschaft, die ihre jeweils nationalen Hintergründe und Färbungen gegen gemeinsame Feinde überwinden wollte.

Eine wenig bekannte Vorgeschichte des Vietnam-Protestes waren die Aktionen kleiner linksstudentischer, pazifistischer und kirchlicher Zirkel für die Befreiung Algeriens zwischen 1954 und 1962, die in Frankreich wie in Deutschland (und andernorts) als "Kofferträger" der algerischen Befreiungsbewegung FLN in Erscheinung getreten waren. Schon an diesem Fall traten Probleme dieser internationalen Solidarität zutage. Bald nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde Algerien zum "Frontstaat" gegen Israel, ruchbar wurde der als Antizionismus verkleidete Judenhass in arabisch-islamischen Gesellschaften. Claude Lanzmann, einer der französischen Kofferträger und Autor bedeutender Filme über die Shoah und Israel, beklagte später das Scheitern seiner Hoffnung, die Solidarität mit Algerien und mit Israel (im Sechstagekrieg 1967 und später) seien vereinbar.

Die Solidarität mit der palästinensischen Bewegung hat auch deutsche Linke zu unsäglichen Entgleisungen verführt, darunter ein Anschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in West-Berlin. Und noch einen Konstruktionsfehler hatte die hochgepriesene Internationale Solidarität – dass sie häufig den Völkern und Oppositionsbewegungen verweigert wurde, die von den an die Macht gelangten Befreiungsbewegungen und ihren Diktatoren (exemplarisch der unsägliche, vom deutschen KBW hofierte Robert Mugabe) unterdrückt wurden. Ganz zu schweigen vom Salonmaoismus, der den Aufstieg einer Volksrepublik China begleitete, die heute recht ungeniert als imperiale Macht auftritt.

"Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste"

Da wir schon bei den Vermissungen sind: Auch wenn sich ein Hauptinitiator des Pariser Mai, Daniel Cohn-Bendit, später zu einem veritablen "Mister Europe" entwickelt hat, der auch die Elemente des Kosmopolitismus und Multikulturalismus aufnahm, die in '1968' steckten, war die 68er-Bewegung in ihrer Spannung zwischen Nationalstaat und Weltrevolution der sich entwickelnden Europäischen Gemeinschaft gegenüber skeptisch bis ablehnend eingestellt, die sie als Interessengemeinschaft der multinationalen Konzerne empfand. Und das, obwohl unter den Protagonisten längst eine europäische Gemeinschaft entstanden war.

Noch viel zu stark war diese Bewegung auch noch dem Ost-West-Konflikt verhaftet. Denn so stark man in Deutschland den Akzent auf die Bearbeitung der NS-Vergangenheit legte und in Frankreich und Großbritannien auf die der Kolonialgeschichte, zu einem die beiden totalitären Erfahrungen von Hitler und Stalin einbeziehenden Geschichtsverständnis reichte es seinerzeit nicht – auch das wieder zur schweren Enttäuschung der osteuropäischen Aktivisten, die sich peinliche Exkulpationen der Sowjetdiktatur anhören mussten.

Eine wichtige Klammer der transnationalen Protestbewegung war die Theoriebildung der "Neuen Linken" (New Left/ Nouvelle Gauche), die das Marxsche Erbe undogmatisch aufgriff und mit Vordenkern wie Herbert Marcuse und André Gorz Impulse setzte, die bis heute fruchtbar sind und eine brisante Leerstelle füllen. Ein satirisches Plakat des deutschen SDS spielte 1967 auf einen Werbeslogan der Bundesbahn an: "Alle reden vom Wetter, wir nicht", geschmückt mit den Konterfeis des Säulenheiligen des Marxismus.

Ums Wetter ging es den 68er tatsächlich nicht. Cohn-Bendit, späterer Mitgründer der Grünen, betitelte ’1968’ als die "letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste" - und von der Klimakatastrophe erst recht nicht. Letzteres kann man ihr kaum anlasten, aber eine Politik, die heute wie auch immer an+ 1968 anschließen möchte, wird diesen neuralgischen Punkt kaum umschiffen können. Er deutet auf etwas hin, das die 68er mit ihrer konservativen wie sozialdemokratischen Umgebung verband – der Glaube an die Unendlichkeit des Wachstums und die daraus resultierende Möglichkeit, durch (Um-)Verteilung sozialen Fortschritt erreichen zu können. So noch ganz fest in der industriellen (und patriarchalen) Welt verankert, haben die dann von 1968 ausgehenden neuen sozialen Bewegungen diese postindustriell verabschiedet.

Hannah Arendt hatte Recht: 1968 ist eine Geschichte, die wir als weitere Etappe in einer Geschichte von Revolutionen „lernen“. Ein arabisches ‚1848’ schien der von Tunesien ausgehende, blutig unterdrückte arabische Aufstand zu werden. Bewegungen wie Attac und Occupy haben die konzeptionelle und aktionistische Kapitalismuskritik reanimiert, die nach 1968 heimatlos geworden war. Doch hat die Empörung über soziale Ungleichheit bei einer anderen transnationalen Bewegung angedockt – den "identitären" Nationalisten und Autokraten, die heute selbst die Vereinigten Staaten erreicht haben. 68er, Post-68er und selbst Anti-68er können das kaum widerstandslos hinnehmen.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie bezeichnet sich selbst als "68er". Er war von 2007 bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Er ist Mitherausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik".

Claus Leggewie

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