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Kampf der Schweinegrippe. Eine Hamburger Patientin sucht Schutz.

© Kay Nietfeld/dpa

25.100 Tote und kaum Aufmerksamkeit: Auch bei der Grippewelle 2017 hätten die Medien Alarm schlagen müssen!

Der Kampf gegen das Coronavirus wird mit allen Mitteln der Informationsgesellschaft geführt. Bei der letzten Grippewelle hat diese versagt. Ein Gastbeitrag.

Christian Walther ist Fernsehreporter und Vorsitzender des DJV Berlin – Journalistenverband Berlin-Brandenburg.

„Die Bilanz ist erschütternd. 94 Grippetote bis heute in Berlin.“ Das war vor 50 Jahren, im Januar 1970, Original-Ton Abendschau, am Ende einer Welle, die seit 1968 unter dem Namen Hongkong-Grippe weltweit Angst und Schrecken verbreitet hatte.

Die Zahl der Opfer wird global auf rund eine Million geschätzt, für (West-) Deutschland auf 40.000. In Ost-Berlin wurde zwar – wie seinerzeit der dortigen Presse zu entnehmen war – erfolgreich nach einem Impfstoff geforscht, doch ansonsten schien das Virus einen Bogen um die DDR zu machen.

50 Jahre später aber ist die Hongkong-Grippe längst dem kollektiven Gedächtnis entrückt. Eine andere Grippewelle gerät ins Blickfeld, die von 2017/2018. Mathias Döpfner, Chef des Springer-Verlags, machte seine Zweifel an den amtlichen Maßnahmen gegen Corona öffentlich: Er ärgere sich „über die Angst vor einem Virus, das weltweit bisher weniger Todesopfer gefordert hat als die Grippewelle von 2017/2018 in Deutschland.

Damals starben schätzungsweise 25.100 Menschen.“ Inzwischen sind es – weltweit – viel mehr. Und dennoch berührt Döpfner einen wichtigen Punkt. Denn tatsächlich haben wir es mit einer ignorierten Katastrophe zu tun: 25.100 Menschen sind der Grippewelle 2017/2018 zum Opfer gefallen, und kaum einer hat es bemerkt.

Rekord an Arztbesuchen

Sicher: Es gab eine Grippewelle, und die Zahl der Arztbesuche erreichte einen Rekordwert. Noch nie seit Einführung des Infektionsschutzgesetzes 2001 war die Zahl der Erkrankungen so groß. Das war auch Thema in den Medien. Im Frühjahr 2018 war sogar vereinzelt von einer Überforderung der Krankenhäuser die Rede.

Aber Medizin und Behörden waren sich sicher, dass es eine gewisse Immunität in der Bevölkerung gebe, und es waren ja auch viele gegen Grippe geimpft. Allerdings mit einem relativ wirkungslosen Dreifachimpfstoff, wo ein Vierfachimpfstoff weit besser geschützt hätte.

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Doch nirgends ertönte ein Signal angesichts erhöhter Sterbeziffern – nicht aus Pflegeheim oder Krankenhaus, nicht beim Gesundheitsamt und auch nicht bei einem Whistleblower, einem anonymen Informanten. Keine Redaktion fragte nach, kein Medium wunderte sich.

Und so blieb alles ganz normal: Kein Lokal wurde geschlossen, keine Schule dicht gemacht und nirgendwo die Produktion runtergefahren. Altenheime durften besucht und Feten gefeiert werden. Niemand stellte die Frage, ob die Intensivbetten ausreichen und die Beatmungsgeräte intakt sind. Das öffentliche Leben blieb unberührt.

Das Abstrakte muss konkret werden

Kein Wunder. Denn die Ausmaße der Grippewelle 2017/2018 wurden erst viel später bekannt. Es gab keine Bilder aufgereihter Särge und keine Berichte verzweifelter Ärzte wie aus  Bergamo und New York. Es sind aber solche Bilder und Berichte, die eine abstrakte Bedrohung konkret machen.

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Auch die Grippewelle 2017/2018 war sehr konkret, ihre Dimension wurde aber erst öffentlich, als sie längst vorbei war: Im September 2018 teilte das Robert-Koch-Institut (RKI) mit, dass die Welle „außergewöhnlich schwer gewesen“ sei. Und schätzte die Zahl der Todesfälle allein für Berlin auf 1.100 – mehr als das Zehnfache der Hongkong-Grippe!

Die Gesamtabrechnung erfolgte erst ein Jahr später, im September 2019. Und da war dann erstmals von jenen deutschlandweit 25.100 Toten die Rede, über die jetzt gesprochen wird. Die Pressemitteilung des RKI unter der Überschrift „Pommes für die Grippeschutzimpfung? Neuer Influenza-Saisonbericht erschienen“ war auch nicht dazu angetan, in den Redaktionen besondere Aufmerksamkeit zu generieren.

Die Medien hätten Alarm schlagen müssen

Weiteres Manko: Die Zahl ist eine Schätzung: Das RKI kalkuliert alljährlich, wie viele Menschen normalerweise – ohne Influenza – sterben würden und kommt dann mit einer Zahl für die „Übersterblichkeit“ heraus.

Hätten die Influenza-Toten von 2017/18 überleben können? Bestimmt nicht alle. Auch sie waren zumeist alt, krank und schwach. Aber wenn die Medien rechtzeitig Alarm geschlagen hätten, hätte es ein intensiveres Nachdenken über Quarantäne für Altenheime, Maskentragen im Nahverkehr und Hygiene im Alltag gegeben.

So aber starben zu viele zu früh. Als Todesursache wurde oftmals nicht Grippe vermerkt, sondern Herzversagen. Aber vielleicht war es das Herzversagen einer Gesellschaft, die nicht anständig informiert war über die Risiken und Nebenwirkungen einer Grippewelle.

Christian Walther

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