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36 Jahre nach dem Mauerfall: Die Demokratie im Osten ist stärker als gedacht
Trotz anhaltender Ungleichheiten und unsicherer Mehrheiten bleibt die ostdeutsche Gesellschaft stabil. Viele Initiativen geben ihr neue Kraft.

Stand:
36 Jahre ist das schon her? Eine verdammt lange Zeit. Mit welchen Hoffnungen haben sich die Menschen beim Mauerfall auf den Weg gemacht, ein paar unendlich weite Meter in eine neue Welt? Welche Erwartungen hatten die Ostdeutschen und warum scheint das ganze Land heute noch nicht im Glück vereint, sondern eher in Sorgen? Sind 36 Jahre vielleicht doch eher eine verdammt kurze Zeit?
Ja, der Osten ist immer noch besonders, das Gestern bleibt in das Heute eingraviert – wahrscheinlich auch noch morgen. Selbst bei der neuen Generation, geboren lange nach dem Ende der DDR-Diktatur, gibt es einen vererbten Oststolz – und bei nicht wenigen Älteren überlebt ein Osttrotz, der beständig politisch befeuert wird.
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Der Kommentar von Robert Ide zum Nachhören:
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Auch strukturelle Nachteile haben die Jahrzehnte überdauert. Geringere Löhne, kaum Vermögen und Erbschaften sowie weniger Repräsentanz in Kultur und Wirtschaft machen eine Einheit auf Augenhöhe weiterhin schwierig.
Umso erstaunlicher ist ein Befund, der im gegenseitigen Fingerzeigen aufeinander zu oft aus dem Blick gerät: Es gibt eine stabile demokratische Gesellschaft zwischen Ostsee und Erzgebirge.
In Umfragen zeigt sich eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen zufrieden mit ihrem persönlichen Leben, viele sind aber gleichzeitig unzufrieden mit staatlichen Institutionen, den in der Fläche kaum sichtbaren Parteien und den anhaltenden Ungleichheiten.
Angesichts des sich zurückziehenden Staates und auch der Radikalisierung der Rechtsextremen wächst stetig eine starke Zivilgesellschaft, die die ostdeutsche Gesellschaft resilienter macht als noch in den 90er Jahren.
So viel Ehrenamt wie im Westen
Mittlerweile gibt es im Osten so viel ehrenamtliches Engagement wie im Westen. Insbesondere die Jüngeren und Rückkehrer aus den westlichen Bundesländern packen neu an und schaffen die für eine demokratische Gesellschaft wichtigen Begegnungsorte: Sie bauen Bibliotheken zu Treffpunkten um, veranstalten Toleranzfeste in Sportvereinen und verwandeln Dorfscheunen in Kulturorte.
Auch die ostdeutsche Politik zeigt inmitten rasanter Veränderungen und trotz spürbarer Zukunftsängste in der Bevölkerung eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. Die Landesregierung in Thüringen arbeitet trotz wackliger Mehrheiten relativ geräuschlos, in Sachsen wurde auch ohne Regierungsmehrheit ein Haushalt durchs Parlament gebracht.
Neue Mauern will die große Mehrheit der Menschen gar nicht haben.
Tagesspiegel-Autor Robert Ide
Die Wählerinnen und Wähler, die in Umfragen und bei bundesweiten Abstimmungen dem Mecker-Populismus zu immer neuen Höhenflügen verhelfen, schätzen vor Ort vor allem Pragmatismus. Bei den Kommunalwahlen in Brandenburg hat sich das gerade eindrucksvoll gezeigt: Wenn’s drauf ankommt, verliert die AfD nahezu immer – inzwischen oft gegen Parteilose.
Auch deshalb fokussiert Sachsen-Anhalts CDU-Spitzenkandidat Sven Schulze, der ein knappes Jahr vor der Wahl in Umfragen klar zurückliegt, seinen Wahlkampf auf die finale Frage: Wer kann unsere Heimat wirklich regieren – ein vielleicht nicht strahlender Wirtschaftsminister oder einer, der bei TikTok mit Wut-Videos viral geht?
All das zeigt: Es gibt trotz aller Ausfransungen zu populistischen und radikalen Rändern eine lebendige demokratische Debatte in den schon lange nicht mehr neuen Bundesländern. Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, die die Revolution vor 36 Jahren maßgeblich mitgeprägt hat und damit den Mauerfall ermöglichte, sagte jüngst bei der Ostdeutschland-Konferenz des Tagesspiegels: „Die Menschen werden sich am Ende immer für die Freiheit entscheiden, auch wenn es gerade mit den populistischen Bewegungen einen Rückschlag für die Demokratie gibt.“
Mit Blick auf Osteuropa ergänzte Historiker Karl Schlögel, der gerade den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat: „In Krisen zeigt sich ein neues Panorama der Kräfte.“
Wenn es also drauf ankommt für die Demokratie, dann merken die Leute trotz aller Unzufriedenheiten und Ängste auch, wie viel ihnen an ihr liegt. Darauf wird es gerade im nächsten Jahr in Ostdeutschland ankommen. Auch wenn die immer radikalere AfD das Gegenteil beschwört: Neue Mauern will die große Mehrheit der Menschen gar nicht haben.
36 Jahre – für die Demokratie war es auf jeden Fall eine verdammt wilde Zeit. Inzwischen behauptet sich der Osten weitgehend selbst. Und findet auf einem eigenen demokratischen Weg besser zu sich.
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Jeden Donnerstag ab 6 Uhr kommentiert Robert Ide stadtpolitische Themen bei Simone Panteleit und Team im Berliner Rundfunk 91.4. Im Tagesspiegel finden Sie den Kommentar zum Nachlesen und Nachhören.
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