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Flüchtlinge aus der äthiopischen Region Tigray in einem Lager in Ost-Sudan.

© Ebrahim Hamid/AFP

Äthiopien droht der Zerfall: Nur die „Liebe“ allein kann doch nicht einen Vielvölkerstaat zusammenhalten

Premier und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed ist zu schwach, um die Ethnien im Zaum zu halten. Einen Krieg kann er kaum gewinnen. Ein Gastbeitrag.

Annette Weber forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zu regionalen und innerstaatlichen Konflikten am Horn von Afrika.

Vor zwei Jahren lagen sich die Menschen im Norden Äthiopiens mit Freudentränen in den Armen: Der eiserne Vorhang zwischen Äthiopien und dem ehemaligen Kriegsgegner Eritrea war nach 18 Jahren geöffnet worden. Geschwister sahen sich zum ersten Mal, Großeltern hielten ihre Enkel in den Armen, die Telefonverbindungen funktionierten über Nacht.

Ein neues Zeitalter schien angebrochen. Das Horn von Afrika, die Region, die für ihre verbitterten Bruderkriege, Hungersnöte und unbeugsamen Ideologien stand, bekam auf einmal einen Glanz.

Besonders die Jugend, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellt, war hoffnungsvoll. Viele erwarteten von dem neuen, jungen Premier Abiy Ahmed ein Leben in Würde und mit Arbeit. Abiy wollte mit dem starren Entwicklungsstaatskonzept der Vorgängerregierung brechen, die von einer kleinen Gruppe, der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), geführt wurde.

Abiy sprach von Demokratie, Privatisierung und Liebe als seinen Leitmotiven. Das schien unerhört, und spätestens durch den Friedensschluss mit dem benachbarten Erzfeind Eritrea war ihm etwas geglückt, das die Menschen im Land und in der Region gleichermaßen begeisterte und ihm den Friedensnobelpreis einbrachte.

Die Grenze ist längst wieder geschlossen

Heute sind die Grenzen zwischen Eritrea und Äthiopien längst wieder geschlossen. Raketen werden auf Ziele in Tigray, Amhara, aber auch Eritrea abgefeuert. Hunderte zivile Opfer sind zu beklagen, Hunderttausende werden in den kommenden Wochen als Flüchtlinge im Sudan erwartet.

Aber auch außerhalb Tigrays ist die Situation in Äthiopien prekär. Hunderte fielen in den vergangenen Monaten ethnischen Pogromen zum Opfer. Nach der Ermordung eines Sängers begannen wochenlange Proteste, die Regierung sperrte das Internet für Monate, Tausende Oppositionelle wurden verhaftet. Die Jugend, deren Proteste einst den Aufstieg von Abiy Ahmed beförderte hatten, demonstriert angesichts der enttäuschten Hoffnung auf eine bessere Zukunft jetzt gegen seine Regierung.

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Anfang November passierte schließlich, was sich in den Wochen zuvor ankündigt hatte: Die TPLF lieferte sich ein Scharmützel mit der Nationalarmee. Obwohl Tigray nur sechs Prozent der Bevölkerung stellt, hat die Region mehr Truppen zur Verfügung, als die Nationalarmee unter dem Kommando des Premierministers. Dieser hingegen hat Kampfjets, Drohnen und nötigenfalls auch die Truppen des Nachbarn Eritreas auf seiner Seite. Ein schneller Sieg ist demnach nicht zu erwarten, die TPLF kennt das Terrain und würde den Kampf aus dem Untergrund fortsetzen.

Äthiopiens Premier Abiy Ahmed Ali bei der Nobelpreiszeremonie in Oslo 2019. Er wurde für die Friedenspolitik gegenüber Eritrea ausgezeichnet
Äthiopiens Premier Abiy Ahmed Ali bei der Nobelpreiszeremonie in Oslo 2019. Er wurde für die Friedenspolitik gegenüber Eritrea ausgezeichnet

© Reuters

Die Eskalation begann, nachdem der Premierminister aufgrund der Covid-19-Pandemie die ersten freien Wahlen, die für Mai 2020 angekündigt waren, auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Einige Monate zuvor hatte er die bis dahin regierende Einheitspartei aufgelöst und die Wohlstandspartei gegründet. In diesem Zuge hatte er die Übermacht der TPLF in der Regierung reduziert und bislang außen vorgelassene Bundesstaaten wie die Somali- und Afar-Region stärker eingebunden.

Die TPLF stellte daraufhin die Legitimität der Regierung infrage, Premier Abiy hält sie für einen Gegner des ethnischen Föderalismus. Anfang September führte sie unabhängige Wahlen in ihrem Bundesstaat Tigray durch, bei denen die Volksbefreiungsfront die absolute Mehrheit erzielte.

Die Abneigung gegenüber der ehemaligen Regierungspartei TPLF ist groß

Die verhärteten Fronten zeugen von einer Schwäche der Regierung Abiy Ahmeds, der es weder gelang, die ethnonationalistischen Spaltungen einzudämmen, noch die Bevölkerung vor ethnischen Pogromen zu schützen. Der Premierminister hatte darauf vertraut, dass der Bau des Nilstaudamms GERD eine breite Unterstützung der gesamten Bevölkerung erfahren und damit zu einem national einigenden Projekt werden könnte. Diese Hoffnung droht zu scheitern. Andererseits ist die Abneigung gegenüber der ehemaligen Regierungspartei TPLF groß, um auch junge Leute für einen Krieg mobilisieren zu können.

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Eskaliert die Situation in Tigray weiter, weil das Land in einen Bürgerkrieg schlittert, könnte dies das Ende der Transition unter Abiy Ahmed bedeuten. Es droht die Gefahr, dass ihm andere Landesteile oder die Armee die Gefolgschaft verweigern. Verliert die TPLF den Konflikt, könnte sie sich zu einer bewaffneten Opposition – im eigenen Land oder der Region – entwickeln.

Darüber hinaus besteht das Risiko, dass der eritreische Präsident Isayas Afewerki seine Chance wittert, durch ein Eingreifen in den Konflikt auf der Seite Äthiopiens wieder zu einem wichtigen Player in der Region zu werden. Äthiopien geriete in Abhängigkeit und wäre geschwächt.

Ein Zerfall Äthiopiens bedroht das Abkommen zum Nilstaudamm und die Transition in Sudan

Eine Implosion Äthiopiens hätte ungeheure Konsequenzen nicht nur für das bevölkerungsreichste Land der Region, sondern auch für das gesamte Horn von Afrika. Ein regionaler Krieg würde die fragile Transition im Sudan gefährden. Auch die Abkommen zum Nilstaudamm oder die entscheidend von Äthiopien mitgetragene Mission der Afrikanischen Union zur Stabilisierung Somalias wären direkt von einer Fragmentierung des Landes betroffen.

Humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung, Waffenstillstand und die gegenseitige Anerkennung von TPLF und Regierung als legitime Akteure wäre ein erster notwendiger Schritt zu Beilegung des Konfliktes.

Von einer geeinten Linie der internationalen Staatengemeinschaft ist derzeit nicht mehr auszugehen. Verlautbarungen der Trump-Administration unterstützen die Linie des Premierministers gegen die TPLF, und auch die Vereinten Arabischen Emirate entsenden Drohnen für Abiy Ahmeds Angriffe auf Tigray. Die Region, die Afrikanische Union, Europa und andere Partner des Landes hingegen setzen sich für Verhandlungen zwischen den Konfliktgegnern ein. Ein Waffenstillstand aber kann nur ein Anfang sein. Die Unzufriedenheit wächst in allen Regionen Äthiopiens, Autonomiebestrebungen verbreiten sich, dem ethnischen Föderalismus droht ein konfliktreicher Zerfall.

Annette Weber

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