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Vizekanzler Robert Habeck steht vor schweren Entscheidungen in der Atom-Frage.

© IMAGO/Emmanuele Contini

Update

Anfahren abgeschalteter Meiler?: Warum der TÜV eine Laufzeitverlängerung für sechs AKW ins Spiel bringt

Streckbetrieb, Laufzeitverlängerung für drei AKW oder sogar für sechs? Ein TÜV-Experte erklärt seinen Vorstoß, der CDU-Chef will den Kauf neuer Brennelemente.

Der Strom-Stresstest läuft noch einige Wochen, im August sollen Ergebnisse vorliegen. Doch für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und seine Partei wird es immer schwerer, die Debatte im Griff zu halten. Joachim Bühler, Geschäftsführer des Verbands der TÜV, weilt gerade im Urlaub, aber aus diesem heraus hat er nun eine besonders heikle Debatte aufgeworfen.

Er sieht es als technisch machbar an, neben den drei noch laufenden Kernkraftwerken Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland auch die Ende 2021 stillgelegten Anlagen Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C wieder anzufahren und so sechs Anlagen über das Jahr 2022 hinaus wegen der Probleme durch den Gasmangel weiterlaufen zu lassen.

Gerade Brokdorf ist jedoch ein Symbol für den Kampf der Anti-Atom-Bewegung, aus der die Grünen hervorgegangen sind.

Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge versucht die via „Bild“-Zeitung losgetretene Debatte einzufangen. „Solche Aussagen zeigen worum es Vielen eigentlich geht: Um die Rücknahme des Atomausstiegs“, twittert Dröge. „Der Verweis auf den kommenden Winter war von Anfang an eine Scheindebatte, denn in einer Gasmangellage nützt Atom nahezu gar nicht!“

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Doch dieses Argument, dass der Atomstrom in der jetzigen Lage gar nichts nütze, wird von immer mehr Experten zurückgewiesen, zumal die Alternative noch mehr klimaschädlicher Strom aus Kohle- und Ölkraftwerken wäre.

Und um Gas zum Heizen und für die Industrie zu sichern, kommt der Stromproduktion auch in den AKW eine gewisse Bedeutung zu, die Lage hat sich durch die Gasdrosselungen und Stromengpässe noch einmal im Vergleich zum ersten Stresstest geändert.

Wurde Ende 2021 abgeschaltet: Das AKW Brokdorf.
Wurde Ende 2021 abgeschaltet: Das AKW Brokdorf.

© REUTERS

Greenpeace warnt vor einer gefährlichen Debatte

Die Grünen stehen vor der heiklen Frage, eisern am Ausstieg Ende 2022 festzuhalten oder verantwortlich gemacht zu werden, wenn sich doch erhebliche Auswirkungen im Strombereich zeigen und sich die Wut bei Bürgern Bahn bricht. Heinz Smital, Atomphysiker und Greenpeace-Atomexperte, hält wie Dröge gar nichts von solchen Vorstößen.

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„Diese Aussage ist irreführend und gefährlich. Alle drei noch am Netz befindlichen AKW laufen ohne die vorgeschriebene zehnjährige Sicherheitsüberprüfung, die bereits 2019 fällig gewesen wäre“, betont Smital.

Auf diese wurde aufgrund des baldigen Atomausstiegs verzichtet. „Für die bereits abgeschalteten AKW liegt die zehnjährige Überprüfung noch länger zurück, eine Wiederinbetriebnahme ist daher ausgeschlossen.“

Wichtiger seien Einsparungen. „Schon das Absenken der Heizungstemperatur um nur ein halbes Grad könnte den Weiterbetrieb der AKW kompensieren.“

Erdgas hatte bis Juni 14,5 Prozent Anteil an Stromerzeugung

Doch was Smital nicht sagt: Erdgas hatte in den ersten fünf Monaten einen Anteil von 14,5 Prozent an der Bruttostromerzeugung, wie auch Habecks Ministerium einräumen musste. Denn wegen des hohen Stromexports etwa nach Frankreich wurde auch mehr Gas als üblich verstromt. In solchen Lagen können Atomkraftwerke den Gasbedarf deutlich senken, sagen Experten.

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TÜV-Experte: Drei abgeschaltete AKW lassen sich rasch wieder anfahren

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel betont der TÜV-Experte Bühler: „Wir haben einen sehr, sehr guten Überblick über die Situation der Kernkraftwerke in Deutschland, und wir haben im März uns sowohl die drei Anlagen, die noch in Betrieb sind, angeschaut als auch die, die Ende 2021 vom Netz gegangen sind.“

In den Kraftwerken sei zu diesem Zeitpunkt mit dem Rückbau noch nicht begonnen worden. „Einfach gesagt wurden die Brennelemente herausgenommen und sind im Abklingbecken in der gleichen Anlage. Das heißt, die Anlagen sind in einem Zustand, die ein Wiederanfahren erlauben“, betont Bühler.

Letztlich sei es alles eine Frage des politischen Willens. „Wenn man jetzt wollte, dann wäre es auf jeden Fall sicherheitstechnisch möglich, sie wieder anzufahren, wenn die entsprechenden Sicherheitsprüfungen durchgeführt wurden.“

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Die FDP will bekanntlich eine Laufzeitverlängerung zumindest der drei noch laufenden Anlagen bis Frühjahr 2024. Auch Wirtschaft und Industrie warnen vor mindestens zwei kritischen Wintern, sollte Wladimir Putin weiter am Gashahn drehen wegen der westlichen Sanktionen im Zuge des Ukraine-Krieges.

Wie Scholz irrte und die Grünen nun im Dilemma stecken

Die SPD hält sich bisher zurück. Während der Kanzler im Urlaub ist, wird aber noch einmal eine Aussage von Olaf Scholz (SPD) aus dem Bundestagswahlkampf 2021 hervorgeholt und verbreitet. „Es gibt in den USA die falsche Vorstellung, dass wir sehr abhängig wären von diesem russischen Gas. Das ist aber, wenn man den Energiemix in Deutschland insgesamt betrachtet, nicht richtig.“

Neben ihm ist eine etwas spöttisch dreinschauende Annalena Baerbock zu sehen. Heute würde Scholz das so nicht mehr sagen – und die Grünen, die immer vor einer zu starken Abhängigkeit und dem Bau von Nord Stream 2 gewarnt haben, müssen als Konsequenz womöglich eines ihrer größten Ziele, den endgültigen Atomausstieg, nochmal für einige Zeit der Engpasslage opfern.

CDU-Chef Merz fordert umgehende Brennelemente-Beschaffung

Aber ist es nicht längst ohnehin zu spät, um mehr als einen Streckbetrieb mit noch nicht ganz abgebrannten Brennelementen zu ermöglichen, was auch die Grünen nicht ausschließen? Das Bundeswirtschaftsministerium geht davon aus, dass die Beschaffung neuer Brennstäbe mehr als ein Jahr dauert.

Experten betonen hingegen, Brennelemente ließen sich auch innerhalb von acht Monaten beschaffen – das könnte zumindest noch reichen, wenn es zuvor für einige Monate zum Streckbetrieb kommen würde. Diese ließen sich zum Beispiel in Kanada oder Schweden einkaufen.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fordert, dass die Bundesregierung nicht weiter taktieren, sondern umgehend neue Brennstäbe beschaffe solle. Habeck müsse „jetzt endlich handeln, um Stromknappheit im Winter zu vermeiden“, sagte Merz der Funke Mediengruppe.

In den drei Atomkraftwerken könne angesichts der aktuellen Energiekrise nicht nur ein vorübergehender Streckbetrieb mit den alten Brennstäben aufrechterhalten werden. „Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist. Die Zeit zur Bestellung neuer Brennstäbe läuft uns aber davon.“

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