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Ansturm auf Covid-19-Testpraxen: Hunderte stehen in Neukölln Schlange
Die Infektionszahlen in der Hauptstadt steigen - vor allem im Bezirk Neukölln. Vor den Covid-19-Praxen herrscht Hochbetrieb.
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Nein, diese Schlange führt nicht zum Tanzclub, nicht zu irgendeiner Party. Und die, die hier zum Teil schon seit Stunden anstehen, sind auch nicht in Feierlaune. Ganz im Gegenteil. Sie fassen sich an die Stirn, telefonieren mit gereizter Stimme, husten, füllen Bögen aus, vergraben sich in Jacken und Masken, fragen andere, ob sie hier richtig seien.
Das hier ist keine Party. Auch wenn viele, die an diesem Dienstagvormittag um kurz nach 11 Bögen mit Gesundheitsdaten ausfüllen, sonst gerne mal in geselliger Runde ein Bierchen trinken. Gerade hier in Neukölln, im beliebten Ausgehviertel in der Nähe des Maybachufers.
Viele, die hier stehen, sind zwischen 20 und 30. Vereinzelt sieht man auch Kinder mit Eltern. Ein kleiner Junge macht ein Würgegeräusch, während ihm die mit Maske und Visier verhüllte Arzthelferin das Wattestäbchen in den Rachen schiebt. Alle schauen zu. So geht das im Minutentakt.
Mehr als 40 Menschen stehen allein in der Sprembergerstraße. Um die Ecke in der Bürknerstraße sind es etwa die Hälfte. Die Praxis von Sibylle Katzenstein verbindet beide Straßen, auf beiden Seiten sind zwei Fenster geöffnet, auf beiden Seiten können sich die Wartenden auf das Coronavirus testen lassen. Zwischen den Fenstern steht ein Holztisch mit Fragebögen. Draußen erklärt ein Mitarbeiter die Regeln, hat aber sonst keine Zeit.
Kollaps vor der Teststation
Am Morgen ist in der Bürknerstraße jemand kollabiert, der Krankenwagen musste kommen. „Das war ganz sicher ein Covid-19-Fall“, sagt die Ärztin. Die zunächst auch keine Zeit hat. Weil sie und ihre Mitarbeiter im Akkord versorgen und erklären. Auf Deutsch und auf Englisch. Eine von ihnen diskutiert mit einem jungen Mann. „Nein, wenn Sie keine Symptome haben und auch keinen Kontakt zu Infizierten, müssen sie 180 Euro zahlen.“ Das sieht er nicht ein.
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Ein paar Meter weiter beschwert sich der Besitzer eines Kleidergeschäfts über die Schlange vor seinem Laden. Einem der wenigen älteren Herren platzt der Kragen: „Die Leute stehen hier nicht zum Spaß.“ Während die Schlange sekündlich wächst. „Ich stehe hier seit drei Stunden“, sagt ein junger Mann, der sonst nicht mehr viel zu sagen hat. Die junge Frau hinter ihm bescheinigt „reinstes Chaos“ und ist sich sicher: „Wenn ich nicht schon vorher mit dem Virus infiziert war, dann bin ich es sicher jetzt.“ Stundenlanges Ausharren in der Kälte.
Wut gegen Maskenverweigerer
Auf der anderen Seite reiht sich Jacqueline in die Schlange ein. Am Abend davor war die 32-Jährige aus Lissabon eingereist. Reiserückkehrer wie sie bekommen hier einen separaten Fragebogen. Die portugiesische Hauptstadt ist Risikogebiet, Jacqueline muss sich deshalb testen lassen. Symptome habe sie aber nicht, erzählt sie.
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Anders bei der 25-jährigen Rachel. Sie hustet, hat Ringe unter den Augen. Ihre Mitbewohnerin ist Grundschullehrerin, sie selbst hat Mitschüler. Jemanden anzustecken wäre fatal. 20 Mal habe sie deshalb am Morgen bei ihrem Hausarzt in Kreuzberg angerufen, der sie schließlich nach Neukölln verwiesen habe. Der 19-jährige Samir ist hier, weil sein Cousin positiv getestet wurde. Der habe wiederum "die ganze Familie angesteckt", wenn so etwas passiere, bekomme man Respekt vor dem Virus.

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Vielen in seinem Alter sei die Gefahr nicht bewusst. „Die jungen Leute nehmen es auf die leichte Schulter. Ich aber nicht mehr“, sagt der junge Mann aus der Türkei. Die Allgemeinmedizinerin, die er an diesem Dienstagvormittag aufsucht, betreibt eine von fünf Neuköllner COVID-19-Praxen. Daneben gibt es noch zwölf weitere Praxen für symptomlose Reiserückkehrer wie Jacqueline. Gut besucht sind derzeit alle.
"Wir sind an unserer Belastungsgrenze"
In den vergangenen sieben Tagen waren es, Stand Montag, in Neukölln 87,6 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. Sibylle Katzenstein behandelt derzeit 200 bis 300 Corona-Verdachtsfälle am Tag, zehn Prozent davon fallen positiv aus, die meisten, die kämen, hätten Symptome.
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Seit Juni merke sie einen deutlichen Anstieg, sagt die Ärztin, die um Viertel vor 1, wenn die Test-Fenster langsam zugehen, eine kurze Pause einlegt. „Wir sind an unserer Belastungsgrenze.“

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Und Schuld daran seien nicht nur die hohen Infektionszahlen, sondern vor allem auch die bürokratischen Hürden. Das Fehlen von Schnelltests und die Tatsache, dass Hausärzte ihren Patienten die Tests nicht kostenlos nach Hause schicken dürften. „Wir müssen in der Breite testen“, sagt die Medizinerin.
Testverfahren viel zu kompliziert
Sie findet die bisherigen Verfahren alltagsfremd, die Infokanäle chaotisch. Die Menschen, die zu ihr kämen, kämen „durch Mund-zu-Mund-Propaganda“, vielen sei aber selbst das zu kompliziert. Einer der Wartenden zerknüllt den ausgefüllten Fragebogen, wirft das Papier auf den Boden und geht. Katzenstein und ihr Team würden den Prozess gerne beschleunigen, aber mehr sei einfach nicht drin. „Es gibt ja noch andere Patienten.“
Seit Wochen versucht sie einen Krankenwagen zu einer zusätzlichen Teststation umzufunktionieren. Es scheitert bislang an der Zulassung. „Ich habe es aufgegeben“, sagt Katzenstein. So wie einige hier das zähe Warten auf den Coronatest.
Fatima Abbas
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