zum Hauptinhalt
Demonstranten auf den Straßen von Istanbul. Sie protestieren gegen eine Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul.

© Yasin AKGUL / AFP

Auf dem Abstellgleis: In der Türkei verzweifelt eine ganze Generation

Die Jugendarbeitslosigkeit in der Türkei liegt bei 26 Prozent. Die Geschichte eines jungen Istanbulers zeigt, wie aussichtslos die Situation im Land ist.

Vor dem Arbeitslosenamt im Istanbuler Innenstadtbezirk Beyoglu ist nicht viel los. Nur wenige Besucher gehen bei der Behörde in einer Gasse unweit vom Bosporus-Ufer ein und aus. Einer von ihnen ist Mert, ein Mittzwanziger, der sich gerade erst arbeitslos gemeldet hat. Seit fünf Monate suche er Arbeit, erzählt Mert – seit er seinen letzten Job bei einem Wachdienst verloren habe. Bisher hat er auf eigene Faust probiert, aber nichts gefunden. Deshalb versucht er es jetzt beim Arbeitsamt. Viel Zuversicht setzt der junge Mann nicht in den Staat – zu Recht, wie Experten sagen: In der Türkei fehlen Konzepte, um Leuten wie Mert zu helfen.

Die Wirtschaftskrise in der Türkei hat die Arbeitslosigkeit auf fast 15 Prozent steigen lassen, den höchsten Wert seit Jahren. Das Statistikamt in Ankara legte diese Woche aktuelle Zahlen vor, die deutlich machen, dass die mehr als drei Millionen jungen Türken im Alter zwischen 15 und 24 Jahren besonders betroffen sind: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 26 Prozent – mehr als jeder vierte junge Mensch in der Türkei ist ohne Beschäftigung. In Deutschland liegt die Rate bei nur 4,2 Prozent.

Aussicht auf Erholung gibt es zumindest vorerst nicht. Nach Angaben der türkischen Handelskammern mussten allein im April mehr als 700 Unternehmen in der Türkei aufgeben. Die Zahl der Firmenschließungen ist demnach im Vergleich zum April vergangenen Jahres um mehr als 25 Prozent gestiegen, während die Neugründungen um über 20 Prozent zurückgingen. Entlassene Mitarbeiter haben es deshalb schwer, einen neuen Job zu finden. Für junge Arbeitssuchende ohne Berufserfahrung ist die Lage besonders schwierig.

Ausbildung hat wenig mit den Anforderungen des Marktes zu tun

Schuld an der Entwicklung ist aber nicht nur die Wirtschaftskrise, die Gründe reichen tiefer. Mert zum Beispiel hat eine Tourismusfachschule absolviert und sollte in einem Land, das in diesem Jahr mit rund 50 Millionen Besuchern rechnet, eigentlich schnell einen Arbeitsplatz finden. Aber trotz Fachabschluss fehlt Mert eine wichtige Voraussetzung, um in der Tourismusbranche erfolgreich zu sein: Seine Schule hat ihm keine einzige Fremdsprache beigebracht. „Deshalb komme ich nicht weiter“, sagt Mert.

Für den Wirtschaftsexperten Mustafa Sönmez verdeutlicht Merts Fall ein großes strukturelles Problem der türkischen Arbeitsmarktpolitik: Zwischen der Ausbildung und den Anforderungen des Marktes klafft eine breite Lücke.

„Jeder vierte Arbeitslose in der Türkei hat einen Hochschulabschluss oder ein Fachhochschuldiplom“, sagte Sönmez unserer Zeitung in Istanbul. „Die meisten haben Betriebswirtschaft oder Management oder so etwas studiert, teilweise im Fernstudium, also nicht einmal an einer Hochschule, sondern per Internet. Die haben zwar ein Diplom bekommen, aber nichts Vernünftiges gelernt, und deswegen bekommen sie dann auch keine Arbeit.“

Auch in anderen Bereichen zielt das Bildungssystem am Arbeitsmarkt vorbei. So fördert die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aus ideologischen Gründen besonders die Berufsfachschulen zur Ausbildung islamischer Geistlicher – doch die Schulabgänger dieser Imam-Hatip-Schulen sind für viele Wirtschaftsbereiche nicht vermittelbar.

Für junge Männer kommt der Wehrdienst als weiteres Problem hinzu: „Viele Arbeitgeber sagen: ,Mach’ erstmal deinen Wehrdienst und komm’ dann wieder“, hat Sönmez beobachtet. Junge Frauen, bei denen die Arbeitslosigkeit fast 30 Prozent erreicht, werden häufig von der konservativen Grundeinstellung der eigenen Familie ausgebremst. „Viele Familien wollen nicht, dass ihre Töchter arbeiten“, sagt Sönmez.

Familien bewahren vor Absturz in die Armut

Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bekommt Mert vom Staat nicht. Er lebt bei seinen Eltern, die ihre mageren Einkünfte mit ihrem Sohn teilen. „Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater ist Rentner", sagt Mert, „da ist es schon schwierig, über die Runden zu kommen.“

So wie Mert geht es vielen jungen Arbeitslosen in der Türkei. Das soziale Auffangnetz durch den Familienverband, das in der Türkei wesentlich stärker ist als in Europa, bewahrt sie vor dem Absturz in die Armut. Doch es hat auch Nachteile. Viele Betroffene lehnen bestimmte Arbeiten ab, die ihnen nicht gefallen. „Das liegt daran, dass junge Leute sich auf die Solidarität der Familie zurückziehen können und dann oft lieber gar nicht arbeiten, als zum Mindestlohn hinter einem Ladentisch zu stehen“, sagt Sönmez.

Bei Mert ist das freilich nicht der Fall; er stünde nur zu gerne hinter einem Ladentisch, und selbst der Mindestlohn von umgerechnet rund 300 Euro netto im Monat würde seiner Familie weiterhelfen. Doch auch auf ihn trifft zu, was Sönmez als weitere Auswirkung der familiären Unterstützung beschreibt: Die jungen Arbeitslosen protestieren nicht, sie organisieren sich nicht, um vom Staat ihr Recht auf Arbeit einzufordern. So wird aus Jugendarbeitslosigkeit schließlich Langzeitarbeitslosigkeit und ein strukturelles Problem für die Türkei.

"Es fehlt an Vision und Planung"

„Eigentlich sollte so eine junge und bildungshungrige Bevölkerung ein Vorteil für ein Land sein“, sagt Sönmez. In der Türkei sind rund 13 Millionen Bewohner zwischen 15 und 24 Jahre alt – in Deutschland sind es bei vergleichbarer Gesamtbevölkerung weniger als neun Millionen. Länder wie die Bundesrepublik legen eigens Programme auf, um ausländische Fachkräfte anzuwerben – in der Türkei dagegen liegen große Potenziale brach.

„Woran es hier fehlt, das sind Vision und Planung“, sagt Sönmez über die Unfähigkeit der Regierung, der arbeitswilligen Jugend eine Perspektive zu bieten. „Dadurch wird dieser Schatz zur Last.“

Zur Startseite