
© Imago/Thomas Köhler
„Auf der Suche nach sich selbst“: Steinbrück nennt seine SPD „orientierungslos“ und „selbstbezogen“
Der Ex-Finanzminister kritisiert die Sozialdemokraten scharf. Schwarz-Rot fehle es an „Konfliktfähigkeit“. Er fordert eine umfassende Sozialstaatsreform sowie eine echte Staatsmodernisierung.
Stand:
Deutliche Worte einer Parteigröße: Der frühere Finanzminister und ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück attestiert seinen Sozialdemokraten eine programmatische Orientierungslosigkeit. „Die SPD ist auf der Suche nach sich selbst“, sagt er im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Dem Diktum von Willy Brandt, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll, läuft sie hinterher.“
Aktuell vermittelten Teile der Partei den Eindruck, „dass aus der Addition legitimer Minderheitsinteressen eine politische Mehrheit zu gewinnen sei“. Dazu zählt er etwa Themen wie Cannabis, Namensrecht, Geschlechtsbestimmung oder Identitätspolitik. Steinbrück hält das für den falschen Weg. „Ich bin überzeugt, dass der weit überwiegende Teil der Bürgerschaft das definitiv nicht als politische Hauptsachen und ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung bewertet“, sagt er.
Die SPD sei vielmehr immer dann erfolgreich gewesen, „wenn sie ihren Einsatz für mehr Gerechtigkeit mit dem Angebot verbunden hat, die ökonomisch-technologische Kompetenz aus der Breite der Gesellschaft abzubilden“, sagt Steinbrück. „Wenn eines dieser beiden Beine zu kurz ist, läuft man nur im Kreis.“
Der politische Ernstfall sollte die Begegnung mit den Wählern sein – und dem, was die umtreibt.
Peer Steinbrück, ehemaliger Bundesfinanzminister (SPD)
Scharf kritisiert der 78-Jährige auch die Selbstbezogenheit, die Teile der Politik und auch seiner Partei erfasst habe. „Der Ernstfall der Politik scheint die Delegiertenkonferenz oder der Parteitag zu sein“, sagt er. Um dort aufgestellt zu werden, müsse man „den parteiverträglichen Kodex und die Töne der dominanten Strömungen auf dem Parteitag so korrekt wie möglich singen“. Das jedoch sei der völlig falsche Fokus. „Der politische Ernstfall sollte die Begegnung mit den Wählern sein – und dem, was die umtreibt“, sagt Steinbrück.
Der aktuellen Regierung fehle es an „Konfliktfähigkeit“, moniert Steinbrück. „Sie knickt vor der lautstarken Empörung einzelner Gruppen zu eilfertig ein.“ Gleichzeitig sei Schwarz-Rot zum Erfolg verdammt. „Wir haben unabhängig von Parteisympathien ein massives Interesse daran, dass diese Koalition aus Union und SPD der Erosion des Vertrauens in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit rasch entgegenwirkt. Wir kriegen sonst ein Demokratieproblem“, sagt Steinbrück.
Dabei sieht er insbesondere Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in der Pflicht. „Einen anderen Kanzler können wir uns nicht backen“, sagt er. „Es muss von vorne geführt werden.“
Steinbrück hält zudem eine umfassende Sozialstaatsreform für notwendig. „Der Normenkontrollrat kommt auf 170 steuerfinanzierte Sozialleistungen, das Ifo-Institut in einer anderen Abgrenzung sogar auf 500. Das führt zu Absurditäten“, sagt er. Aus seiner Sicht müsse das System weg von der Einzelfallgerechtigkeit hin zu einer Pauschalierung von Regelleistungen. Diese müssten anschließend zusammengeführt und auf einer bundesweiten digitalen Plattform abgewickelt werden.
Steinbrück rügt Abgesänge auf Standort Deutschland
Steinbrück fordert außerdem eine echte Staatsmodernisierung. „Der Maschinenraum unseres Staates muss renoviert, Digitalisierung vorangetrieben, Bürokratierückbau betrieben, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft durch eine bessere Rahmensetzung gestärkt, Infrastruktur modernisiert, Bildung stärker gefördert werden“, sagt er.
Deutschlands ersten Digitalminister Karsten Wildberger hält Steinbrück „für eine große Bereicherung des Kabinetts“. Was er bislang zusammen mit den Ländern vorgelegt habe, sei „insgesamt das Weitreichendste, was wir in Deutschland in den letzten zehn Jahren erlebt haben“.
Steinbrück kritisiert die Lust daran, den Standort Deutschland schlechtzureden. „Die Abgesänge gehen mir auf den Keks. Wenn ich einzelne Unternehmer höre, die laut übers Auswandern reden, dann frage ich mich immer, wohin denn?“, sagt er. Es gebe in Deutschland nach wie vor eine hohe industrielle und technologische Kompetenz, gut ausgebildete Fachkräfte und eine vielfältige Forschungslandschaft.
„Wir sind ein demokratisch verfasster Rechtsstaat, nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Korruption ist gering, wir verfügen über global agierende Unternehmen, einen höchst leistungsstarken Mittelstand und eine Sozialpartnerschaft, die Stabilität gibt“, sagt Steinbrück. „Man muss aufpassen, unser Land nicht in den Abgrund zu reden.“ (lem)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: