
© Foto: Imago/S. Steinach
Berichte über totes Flüchtlingskind Maria: „Spiegel“ gesteht Fehler ein und zieht Konsequenzen
Vor allem aus Griechenland hatte es Proteste gegen die „Spiegel Online“-Berichte gegeben. Dem Land war unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen worden.
Stand:
Der Fall Maria hatte im Sommer die Menschen tief bewegt. Ein fünfjähriges syrisches Flüchtlingskind sei auf einer kleinen Insel im griechisch-türkischen Grenzfluss Evros ums Leben gekommen, weil die griechische Regierung den gestrandeten Flüchtlingen nicht geholfen habe, hatte der „Spiegel“ in mehreren Beiträgen auf seiner Webseite berichtet.
Das Mädchen sei Infolge der unterlassenen Hilfeleistung gestorben, obwohl Griechenland nach den geltenden Regeln der Europäischen Union zur Hilfe verpflichtet gewesen wäre. Am Samstagmorgen veröffentlichte der „Spiegel“ auf seiner Webseite die Ergebnisse seiner Nachrecherchen.
Andere, auch internationale Medien hatten die Berichterstattung aufgegriffen. Zunächst wurde über einige Unstimmigkeiten hinweggesehen, obwohl ein Leser die Ombudsstelle des „Spiegel“ kontaktiert hatte. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi hatte zudem direkt an die „Spiegel“-Chefredaktion geschrieben.
Vor allem in zwei Punkten wurden die Berichte von „Spiegel Online“ kritisiert. Zum einen gab es Zweifel daran, ob sich die Flüchtlingsgruppe tatsächlich in Griechenland aufhielt. Zum anderen wurde angezweifelt, dass es überhaupt ein totes Flüchtlingskind gab. Hatten die Flüchtlinge die Geschehnisse nur erfunden? Hatte der „Spiegel“-Reporter ungeprüft Schilderungen von NGOs übernommen? Daraus entwickelte sich im politisch rechtsextremen Lager zusehends die generelle Medienkritik, wonach die Presse das Narrativ solcher Flüchtlingsdramen willfährig aus politischen Opportunitätsgründen weiterverbreite.
„Wir haben tatsächlich Fehler gemacht“
Nachdem sich die Zweifel an der Schilderung vertieften, hatte der „Spiegel“ die drei Onlineberichte und ein Podcast im November von der Webseite genommen. Zugleich wurde eine Überprüfung der Recherchen in die Wege geleitet. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis: „Die Ombudsstelle wertete zahlreiche interne Dokumente, Videos und Fotos mit Metadaten, Chatprotokolle, E-Mails, Audiodateien, Satellitenaufnahmen und andere Unterlagen aus, sprach mit vielen Beteiligten und kam zum Ergebnis, dass wir tatsächlich Fehler gemacht haben“, heißt es am Samstag auf der Webseite des „Spiegel“.
Aus Gründen des Informanten- und Quellenschutzes und wegen der Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitern könnten indes die Ergebnisse „nur begrenzt öffentlich“ gemacht werden, schränkt der „Spiegel“ ein. Gleichwohl werden die strittigen Punkte überaus ausführlich und gewissenhaft analysiert.
„Spiegel“-Reporter Giorgos Christides, der seinerzeit aus Griechenland berichtet hatte, wird in einem zentralen Punkt entlastet. In seinem auf Englisch verfassten Bericht hatte er korrekt im Konjunktiv über den möglichen Tod des Mädchens geschrieben. „She ist reported dead“ und „the group says, Maria died“ hatte er in die Zentrale berichtet. Erst durch die Redigatur durch ein Mitglied der Auslandsressortleitung des „Spiegel“, das danach als Co-Autor genannt wurde, sei daraus in der deutschen Online-Version der Indikativ geworden – und aus der Möglichkeit eine vermeintliche Tatsache.
Zu der Frage, wo sich die Flüchtlingsgruppe befunden hat, kommt das Magazin zu dem Fazit, dass „wir (…) die Situation in unserem Artikel nicht korrekt beschrieben“ haben. Die Beiträge hatten den Eindruck erweckt, die Flüchtlingsgruppe sei fast einen Monat lang immer wieder auf derselben griechischen Insel gestrandet. Tatsächlich seien die Migranten weder immer auf derselben Insel noch immer auf griechischem Boden gewesen. „Tatsächlich lässt sich nur für wenige Tage belegen, wo sich die Geflüchteten genau aufhielten.“
Selbst Behörden haben Probleme bei der Bestimmung der Grenze
Aber auch die griechische Darstellung habe die Ereignisse „nicht korrekt abgebildet“, so der „Spiegel“. Denn „zeitweise waren Geflüchtete aus der Gruppe sehr wohl auf griechischem Terrain – und hätten dort wahrscheinlich problemlos von der griechischen Polizei gefunden werden können“. In den Passagen zuvor werden die Probleme bei der genauen Verortung des Grenzverlaufs am Evros geschildert. „Sogar bei den griechischen Behörden selbst gibt es unterschiedliche Angaben darüber, was nun türkisches und griechisches Terrain ist.“
Auch in Punkt zwei gibt es trotz neuer Recherchen keine schlussendliche Gewissheit. Gab es in der Gruppe tatsächlich ein fünfjähriges Mädchen namens Maria? Kam es am Evros wirklich ums Leben? Selbst die Berichte von Geflüchteten, die Namenslisten von NGOs und Fotos von syrischen Flüchtlingskindern geben keinen eindeutigen Beweis her. Auch sei „unklar, wo auf der Insel das Mädchen begraben worden sein soll“.
„Angesichts der Quellenlage hätte der Spiegel die Berichte über den Aufenthaltsort der Geflüchteten und vor allem den Tod des Mädchens deutlich vorsichtiger formulieren müssen“, resümiert das Magazin. Auch wenn ein letztgültiger Beleg fehle, deute doch manches daraufhin, dass einige der Geflüchteten den Todesfall in ihrer Verzweiflung erfunden haben könnten. „Möglicherweise dachten sie, dass sie dann endlich gerettet würden.“
Eine Konsequenz besteht nun darin, dass der „Spiegel“ die bisherigen Beiträge zum Fall Maria nicht wieder auf die Webseite stellen wird. „Zu vieles darin müsste korrigiert werden.“ Wie mit dem Mitglied der Auslandsressortleitung verfahren wird, das aus einem berechtigten Konjunktiv einen gefährlichen Indikativ machte, dazu sagt die „Spiegel“-Aufarbeitung nichts.
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