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Nach Beschuss in der Ukraine: Betreiber von AKW Saporischschja warnt vor Austritt von Radioaktivität
Die Angst vor einer Atomkatastrophe wie in Tschernobyl ist groß. Am AKW Saporischschja können nun offenbar die Schutzstandards kaum noch eingehalten werden.
Stand:
In dem von russischen Truppen besetzten ukrainischem Atomkraftwerk Saporischschja besteht nach Angaben des Betreibers das Risiko des Austritts von Radioaktivität. Die Anlage sei erneut „mehrmals“ beschossen worden, teilte der staatliche ukrainische Energiekonzern Energoatom am Samstag mit. Dadurch sei die Infrastruktur des größten Atomkraftwerks Europas beschädigt worden. Nach Angaben des Betreibers lief das Akw gegen Samstagmittag „mit dem Risiko, Radioaktivitäts- und Feuerschutz-Standards zu verletzen“.
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Seit einigen Wochen werden die Gegend des AKW Saporischschja und auch Teile des Werksgeländes immer wieder beschossen, die Ukraine und Russland machen sich gegenseitig dafür verantwortlich.
Moskau und Kiew beschuldigten sich auch für den erneuten Beschuss am Samstag wieder gegenseitig. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, auf dem Gelände seien 17 ukrainische Geschosse eingeschlagen. Dabei seien unter anderem ein Lagergebäude für nukleare Brennstoffe und ein Trockenlager für verbrauchte Brennelemente getroffen worden. Die Strahlung auf der Werksanlage sei jedoch normal. Energoatom sprach von Beschuss durch russische Truppen. Der Schaden werde noch untersucht.
Saporischschja ist nach Notabschaltung gerade erst wieder am Netz
Erst am Freitag war das Kraftwerk nach eintägiger Unterbrechung wieder ans ukrainische Stromnetz angeschlossen worden. Zuvor war das Atomkraftwerk nach ukrainischen Angaben infolge russischer Angriffe erstmals in seiner Geschichte vollständig vom Stromnetz getrennt worden.
Bei einer Notabschaltung wird die nukleare Kettenreaktion gestoppt und die Temperatur im Reaktor rasch abgesenkt. „Das ist eigentlich kein Problem“, sagte AKW-Experte Nikolaus Müllner von der Wiener Universität für Bodenkultur. Notabschaltungen kämen auch bei anderen AKW immer wieder vor.

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Solch eine Maßnahme belaste die Systeme der Anlage etwas mehr als eine langsamere Routine-Abschaltung für Wartungszwecke, sei aber nicht gefährlich. Russland und die Ukraine erwarten nun eine Mission Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) am Standort in Enerhodar, damit sich die Experten bald ein Bild von der Lage machen.
IAEA-Chef Grossi will selbst nach Saporischschja
IAEA-Chef Rafael Grossi will die Mission persönlich anführen, „um zu helfen, dort die Sicherheit zu stabilisieren“, wie er in seinem jüngsten Lagebericht zur Ukraine schrieb. IAEA-Experten wollen selbst Schäden und Sicherheitssysteme vor Ort untersuchen, weil die Angaben aus Kiew und Moskau dazu oft widersprüchlich sind.
Außerdem möchte sich die IAEA ein Bild von den Arbeitsbedingungen der ukrainischen AKW-Mitarbeiter machen, die seit Monaten unter der Kontrolle russischer Besatzer arbeiten. Außerdem wollen IAEA-Inspekteure sicherstellen, dass alles Nuklearmaterial noch an Ort und Stelle ist.

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Der IAEA in Wien zufolge sind alle Säulen der nuklearen Sicherheit in Saporischschja zumindest angeknackst. Besonders besorgt ist die IAEA darüber, dass die einzig verbliebene von ursprünglich vier Stromleitungen in das Kraftwerk am Donnerstag ausgefallen war. Denn ohne externen Strom verfügt das AKW nur noch über Dieselgeneratoren, um Reaktorkerne zu kühlen. Zwei Leitungen sollen nun wieder in Betrieb sein.
AKW-Experte zu Saporischschja: „Es ist ein Spiel mit dem Feuer“
Ein sicherer Betrieb sieht anders aus“, sagte Müllner von der Wiener Universität für Bodenkultur der Deutschen Presse-Agentur. Wenn sich die militärische Lage nicht verbessere, sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Anlage einmal schwer beschädigt werde und der Schaden nicht mehr aufgefangen werden könne. „Es ist ein Spiel mit dem Feuer“, sagt er über das aus seiner Sicht verantwortungslose Handeln der russischen und der ukrainischen Streitkräfte.
Zuletzt waren auch Sorgen laut geworden, Russlands Präsident Wladimir Putin können einen inszenierten Atomunfall planen, um dann der Ukraine die Schuld daran zu geben, dass Radioaktivität austritt und die Gesundheit von Millionen bedroht.
Vor der Mitteilung von Energoatom hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor weiteren Notlagen gewarnt. „Ich möchte betonen, dass die Situation sehr riskant und gefährlich bleibt“, sagte Selenskyj in einer Videoansprache in der Nacht zum Samstag. „Jede Wiederholung (...) wird das Kraftwerk erneut an den Rand einer Katastrophe bringen.“ Einmal mehr forderte er einen baldigen Besuch internationaler Experten sowie den Rückzug der russischen Truppen von dem AKW-Gelände, das diese seit März besetzt halten.
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Russland und die Ukraine haben davor gewarnt, dass eine mögliche Atomkatastrophe viel schlimmer werden könnte als die um das 1986 havarierte AKW Tschernobyl. Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Enerhoatom zufolge sind dies aktuell 174 Container mit jeweils 24 abgebrannten Brennelementen, die unter freiem Himmel lagern. Direkte Artillerietreffer könnten demnach so etwas wie eine „schmutzige Atombombe“ erzeugen.
Russland lehnt vor diesem Hintergrund Forderungen der internationalen Gemeinschaft ab, das AKW der Ukraine zu übergeben. Angeführt werden von Moskau Sicherheitsbedenken, dass die Ukraine nicht gewährleisten könne, dass das radioaktive Material nicht in die falschen Hände komme. Bei einer Katastrophe würden besonders auch russische Gebiete massiv verstrahlt. (dpa, Reuters)
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