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Attentäter von Toulouse: Der Nervenkrieg

Seit 1995 hat Frankreich islamistische Anschläge nicht mehr erlebt. Am Mittwochmorgen stürmte die Polizei die Wohnung des mutmaßlichen Attentäters - und zog sich nach einer wilden Schießerei wieder zurück. Es wurde ein langer Tag.

Es soll der letzte Akt sein, um das Morden zu beenden. Die gespenstische Serie von gezielten Tötungen im Raum Toulouse zu stoppen, wenn möglich ohne einen weiteren Toten. Schwer bewaffnete Antiterrorspezialisten haben in der Nacht zu Mittwoch das mehrstöckige Wohnhaus mit der Nummer 17 in der Rue Sergent Vigné in Toulouse umstellt. In der Parterre-Wohnung hat sich Mohamed M. verschanzt, der mutmaßliche Attentäter, der sieben Morde in den vergangenen zehn Tagen verübt haben soll. Als die Beamten des Sonderkommandos den Verdächtigen um drei Uhr in der Früh zu überraschen versuchen, feuert der durch die verschlossene Wohnungstür und verletzt drei Beamte.

So wird, was als schneller Erfolg in Präsident Sarkozys Wahlkampf gepasst hätte, zu einem stundenlangen Zermürbungsmanöver. Am Montag waren drei Schüler und ein Lehrer am Eingang einer jüdischen Schule in der südwestfranzösischen Stadt erschossen und zuvor in derselben Stadt und im nahe gelegenen Montauban drei Fallschirmjäger mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet worden. Doch die Ergreifung des Täters wird zur Geduldsprobe, seiner habhaft zu werden, eine Frage der Nerven. Ein Mann ohne Ausweg nutzt die letzte Chance, die er hat, um sich als unbeugsamer Kämpfer zu inszenieren.

Das vierstöckige Wohnhaus in der von kleinen Einfamilienhäusern gesäumten Straße wurde weiträumig umstellt. Straßensperren sind errichtet und Häuser aus Sorge vor eventuellen Explosionen evakuiert. Die Vertreter der Medien werden auf Abstand gehalten. Ab und zu tritt Innenminister Claude Guéant, der den Einsatz leitet, vor die Mikrofone und sei es, um zu dementieren, dass man den Verdächtigen bereits gefasst habe.

Zur gleichen Zeit in Jerusalem herrscht unfassbare Trauer. Israel hat viele Terroranschläge erlebt, hat um die Toten getrauert, mit den Hinterbliebenen gefühlt, für die Verletzten gebetet. Doch diesmal, am Mittag des Tages, an dem auch ein Schuldiger präsentiert werden soll, ist an den Abhängen des großen Friedhofes „Berg der Ruhe“ vieles anders als sonst. Es findet eine Beerdigung von Terroropfern statt, die nicht hier, sondern weit entfernt gestorben sind. Das ist das eine.

Das andere ist, dass die Trauer familiärer ausfällt, trotz der Anwesenheit zahlreicher hoher Offizieller, und auch erschütternder, weil ein Vater und zwei seiner kleinen Söhne zu Grabe getragen werden zusammen mit der Tochter des Rektors aus Toulouse, vor dessen Schule Mohamed M. am Montag aufgetaucht war und seine fliehenden Opfer wie ein Jäger verfolgt hatte. Von „wilden und unersättlichen Tieren, wilden durch ihren Hass wahnsinnig gewordenen Tieren“, denen sich die Juden in der Welt ausgesetzt sähen, wird Knesset-Präsident Reuven Rivlin später sprechen. Tausende folgen weinend, klagend, Psalme rezitierend den Särgen von Jonathan, Arieh und Gabriel Sandler, der siebenjährigen Miriam Monsonego.

Rabbi Jonathan Sandler, in Toulouse geboren, in der Schule, in der er nun ermordet wurde, erzogen, nach Israel ausgewandert, zurückgekehrt nach Toulouse, geheiratet, mit Frau nach Jerusalem gezogen und schließlich vor sieben Monaten mit seiner Familie zurückgekehrt an seinen Geburtsort, um dort jüdischen Kindern jüdische Religion zu vermitteln, wird in seiner und des jüdischen Volkes Heimat begraben. Er, der hilflos zusehen musste, wie der Täter seine Söhne, den fünfjährigen Arieh und den vierjährigen Gabriel, ermordete, letzte grausame Bilder bevor ihn selbst tödliche Kugeln trafen.

Alain Juppé, der französische Außenminister, hatte zuvor schon gegenüber Staatspräsident Schimon Peres erklärt: „Das Blut unserer beider Völker ist in diesen Morden vergossen worden. Ganz Frankreich steht unter Schock.“

Die politisch bedeutendsten Worte allerdings wurden nicht in Jerusalem, sondern im benachbarten Ramallah vom palästinensischen Ministerpräsidenten Salam Fayyad gesprochen. Mit in dieser scharfen Form bisher nie geäußerter Kritik verurteilte er den Anschlag als „feigen Terror gegen Unschuldige“. Und fügte hinzu: „Kein palästinensisches Kind kann solche Verbrechen akzeptieren.“ Er wies damit die Behauptung Mohamed M.s zurück, sich für die Tötung palästinensischer Kinder gerächt zu haben. Es sei an der Zeit, so Fayyad, dass Terroristen aufhörten, ihre Untaten angeblich im Namen Palästinas zu verüben.

Der Attentäter soll Mitglied einer islamistischen Gruppe „Ritter des Stolzes“ sein

Da hatte sich M. bereits erklärt. Durch die geschlossene Wohnungstür bekannte er, die jüdischen Kinder hätten sterben müssen aus "Rache für die palästinensischen Kinder". Er sei Mitglied von Al Qaida, sagte M. außerdem, und schwer bewaffnet. Unter anderem habe er eine Kalaschnikow, eine Maschinenpistole vom Typ Uzi und andere Handfeuerwaffen bei sich, warnte er die Polizisten, die ihn belagerten. Eine Pistole warf er zum Fenster hinaus, um dafür ein Gerät zu erhalten, mit dem er mit der Polizei kommunizieren konnte.

„Der Mann spricht viel“, berichtete Guéant. „Er hat uns seinen ganzen kriminellen Weg beschrieben.“

Gesprächig hatte sich M. bereits um kurz nach Mitternacht gezeigt, als er den Sender France 24 anrief. Dabei bekannte er sich nach einem Bericht der Dienst habenden Redakteurin zu den Anschlägen, bestätigte, dass er seine Taten selbst gefilmt habe und kündigte weitere Aktionen an.

M. ist französischer Staatsbürger algerischer Herkunft. Er hat zwei Brüder und zwei Schwestern, arbeitete als Karosserieschlosser und gilt als Motorradfan. Schon als 14-Jähriger sei er auf einem leichten Motorroller herumgefahren. Mehrere kleine Delikte wie Handtaschenraub oder Fahren ohne Führerschein habe er sich zuschulden kommen lassen, aber keine Gewalttaten, teilten die Ermittler gestern mit. Wie und warum er zum radikalen Muslim wurde, ist nicht bekannt.

Er hatte sich bei der Fremdenlegion beworben, war aber nach dem ersten so genannten Integrationstreffen, angeblich wegen psychischer Instabilität, abgewiesen worden. Nachbarn haben ein widersprüchliches Bild von dem bärtigen Mann. Eine Frau, die auf derselben Etage wohnt, beschreibt ihn als einen verschlossenen jungen Kerl, in dessen Gegenwart sie immer ein ungutes Gefühlt gehabt habe. Er habe sich stets unauffällig verhalten, sei aber verschlossen gewesen. Einem anderen Nachbarn bot er vor ein paar Monaten Hilfe beim Ausladen eines Sofas aus dem Möbelwagen an und erbot sich auch, es die Treppe hinaufzutragen. Christian Etelin, ein Anwalt, der ihn seit acht Jahren kennt, sagt, er sei „sanft und höflich, auf jeden Fall nicht hart“.

Nicht hart genug für das jetzt, soll es heißen. Mohamed M. soll Mitglied einer islamistischen Gruppe namens Forsane Alizza oder auch „Ritter des Stolzes“ sein. Sie hat nicht im Verborgenen operiert, sondern brüstete sich in der Vergangenheit mit einer Reihe Flash-Mob-Aktionen verantwortlich gewesen sein, in einer McDonalds-Filiale etwa oder vor einem Schalter der israelischen Fluggesellschaft El Al. In aufwendigen Video-Kampagnen wandte sich die Gruppe gegen die ihrer Meinung nach islamophobe Stimmung in Frankreich, die Muslime systematisch unterdrücke und entrechte. In einem dieser Videos geht Forsane Alizza dem Fall einer Frau nach, die von der Polizei verhaftet worden sein soll. Sie berichtet, dass sie in eine Zelle mit Männern gesteckt worden sei, dass man sie gegen eine Mauer gedrückt habe. Die Botschaft der Gruppe: Nur wir schaffen es, unsere muslimische Schwester zu befreien. In einem aufgezeichneten Telefonat mit dem Opfer scheint ein Aktivist um eine Art Einverständniserklärung für eine „deutliche Reaktion“ zu ersuchen. Sie würde die Dinge allerdings auf eine Weise regeln, „die nicht allen gefällt“. Denn es liege „etwas oberhalb dessen, was normalerweise gemacht wird. Einverstanden damit?“

Im Januar wurde die Gruppe verboten. Sie trainiere ihre Mitglieder „für den bewaffneten Kampf“, so lautete der Vorwurf des französischen Innenministeriums. Die Gruppe hatte unter anderem Videos veröffentlicht, in denen vermummte Gestalten mit Farbmunition vermeintliche Kampfeinsätze simulierten. Der Bruder Mohamed M.s soll überdies ein Rekrutierungsbüro für Al Qaida-Willige betrieben haben. Er wurde am Mittwochmorgen verhaftet. In einem unweit der Wohnung M.s geparkten Auto fanden sich weitere Waffen sowie Sprengstoff.

Im Jahr 2010 war Mohamed M. in Afghanistan als Bombenbauer zu zu drei Jahren Haft verurteilt worden

Mit wem man es bei Mohamed M. zutun hat, wollte jedoch der Inlandsgeheimdienst DCRI schon vor Jahren genauer wissen. M. soll sich mehrmals nach Pakistan und Afghanistan begeben haben. Er gehört damit mutmaßlich zu der Zahl islamistischer junger Leute, die in den vergangenen Jahren aus Europa nach Afghanistan gingen, um sich in afghanisch-pakistanischen Trainingscamps von Al Qaida zu Gotteskriegern ausbilden zu lassen. Ihre Zahl wird von den westlichen Geheimdiensten auf etwa 150 geschätzt. Ungefähr 20 von ihnen sollen französischer Nationalität sein. Durch den Tod Osama Bin Ladens, die ständige Bedrohung durch US-Drohnen sowie die finanziellen Schwierigkeiten des Terrornetzwerks soll der Aufenthalt in den Lagern immer schwieriger geworden sein. Nach Angaben einer von der Nachrichtenagentur AFP zitierten Geheimdienstquelle seien inzwischen alle selbst ernannten Gotteskrieger zurückgekehrt. wie viele es sind, die sich nun in Frankreich aufhalten, ist unbekannt.

M. war überdies nach CNN-Recherchen 2010 in der afghanischen Stadt Kandahar als Bombenbauer zu zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Doch bei einem Massenausbruch ist ihm wohl die Flucht gelungen. Nach seiner Rückkehr in seine französische Heimat entdeckten die Geheimdienste keine Indizien, dass es sich bei ihm noch immer um einen Kämpfer handelte. War er zum Schläfer geworden?

Seit der Welle der Bombenanschläge von 1995 hat es in Frankreich keine Attentate mit islamistischen Hintergrund mehr gegeben. Das mag erklären, warum in der französischen Öffentlichkeit zunächst vor allem über einen rechtsradikalen Hintergrund der Taten spekuliert wurde.

Auf die Spur M.s gelangten die Fahnder durch mehrere Quellen. Imad Ibn Ziaten, der 30-jährige Fallschirmjäger, der am 11. März erschossen worden war, hatte am 24. Februar auf einer Internetseite sein Motorrad zum Verkauf angeboten und dabei nicht verheimlicht, dass er Soldat sei. Bei der Rückverfolgung der 575 Antworten stießen die Fahnder auf die Internetadresse der Mutter Mohamed M.s, nach einem anderen Bericht auf die eines seiner Brüder. Doch erst der Hinweis des Toulouser Motorrad-Händlers Christian Dellacheru brachte den Durchbruch.

Der Yamaha-Händler erinnerte sich an einen Kunden, der den zur Ortung gestohlener Fahrzeuge dienenden Chip an einem schwarzen Motorroller hatte ausbauen lassen wollen. „Normalerweise kommen die Leute, um sich einen solchen Chip einbauen zu lassen“, berichtet Dellacheru, „nicht um ihn zu entfernen.“ Der Kunde war ihm von früher bekannt. Es war M., der den am 6. März gestohlenen Roller inzwischen für seine Tat am Montag hatte weiß spritzen lassen.

Als Innenminister Guéant noch am Dienstag erklärte, dass „mangels Hinweisen in alle Richtungen ermittelt“ werde, wurde die Operation bereits vorbereitet. Die Überrumpelung schlug trotzdem fehl. Im Lauf des Vormittags brach der Kontakt zwischen M. und der Polizei für mehrere Stunden ab. Er wolle nicht mehr verhandeln, erklärte M.. Was wollte er dann? Die Polizei verlegte sich aufs Abwarten. Sie will den Mann, wie Innenminister Guéant sagt, lebend. Sie will den Prozess.

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