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Syrien: „Die Chemiewaffen sind einsatzfähig“
Der Verteidigungs- und Waffenexperte Hans Rühle über die Aufrüstung der syrischen Regierungstruppen – und wie man die Lagerstätten chemischer Waffen sichern kann.
Stand:
Herr Rühle, es wird viel gemutmaßt über das Ausmaß des syrischen Chemiewaffenprogramms. Von 1982 bis 1988 waren Sie Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. Sie gehen davon aus, dass Damaskus über große Mengen Chemiewaffen verfügt. Welche Quellen haben Sie für Ihre Angaben?
Unsere Quellen sind die amerikanischen und israelischen Geheimdienste gewesen. Insbesondere durch die Israelis wussten wir sehr gut Bescheid, was die Russen in den 90er Jahren bis 2002 an Syrien geliefert haben.
Ging die russische Hilfe bei der Herstellung von Chemiewaffen 2002 zu Ende?
Seit 2002 gibt es keine Nachweise mehr für eine russische Kooperation, dafür aber für Hilfe aus dem Iran. Der Iran hat mehrere tausend Tonnen chemische Waffen – eine ähnliche Größenordnung wie Syrien – und vor allem die gleichen Stoffe, also Senfgas, Tabun, Sarin und das besonders gefährliche VX. VX ist so furchterregend, weil ein Tropfen genügt, um einen Menschen zu töten. Mit einem Liter VX können sie eine Million Menschen umbringen. Früher gab es im Irak natürlich auch Bestände an Chemiewaffen, die verschwunden sind.
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Sie behaupten, dass irakische Chemiewaffen von den Russen kurz vor dem Angriff der USA auf den Irak 2003 außer Landes geschafft wurden – und zwar nach Syrien.
Das ist auch eine Geheimdienstgeschichte. Die Russen haben kurz vor Kriegsbeginn noch mit Lastwagen und auch Flugzeugen etwa 300 Tonnen Sprengstoff und auch Restbestände chemischer Waffen abtransportiert.
Warum haben die USA das nicht an die große Glocke gehängt? Sie hatten doch den Einmarsch mit den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins begründet, die dann nie gefunden wurden.
Massenvernichtungswaffen hieß natürlich hauptsächlich atomare Waffen, die nie gefunden wurden. Und biologische Kampfstoffe – wir erinnern uns an Colin Powells Präsentation in der UN-Vollversammlung angeblich mobiler Labore zur Herstellung biologischer Kampfstoffe. Dies stellte sich als unwahr heraus. Die vorhandenen Chemiewaffen wurden kaum richtig wahrgenommen. Aber die US-Regierung wusste von deren Abtransport.
Sind sie heute das Hauptproblem in Syrien?
Nein, sie wurden zumeist vergraben, und Chemiewaffen kann man nicht unbegrenzt lagern. Daher sind die russischen Novichokes so brisant: Diese binären Waffen bestehen aus zwei vergleichsweise harmlosen chemischen Stoffen, die nahezu unbegrenzt lagerfähig sind, deren Vermischung jedoch einen tödlichen Kampfstoff ergibt.
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Besitzt Syrien diese Waffen?
Es gibt nur ein Land, das diese definitiv erhalten hat: Nordkorea. Und wahrscheinlich die Syrer. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hat die russische Industrie in großem Maße chemisches und biologisches Material ins Ausland verkauft. So wie der General Anatoli Kuntsewitsch: Er war Berater von Präsident Boris Jelzin für die Abrüstung von Chemiewaffen entsprechend dem Vertrag mit den USA. Der General hat mit dem Material jedoch Syrien versorgt, schließlich wurde er entlassen, führte die Geschäfte als Privatmann fort. Bis er 2002 bei einem Flugzeugabsturz zu Tode kam.
"Über den Lagern kreisen längst die Drohnen"
Wie einsatzfähig sind Ihrer Einschätzung nach die syrischen Chemiewaffen?
Syrien produziert in eigenen Produktionsstätten auf neuestem Stand seine Stoffe. Da würde ich keine Einschränkung machen wollen, was die Einsatzfähigkeit angeht.
Und Sie gehen davon aus, dass dort auch VX vorhanden ist?
Ja, 2007 gab es ja einen gravierenden Unfall in der Anlage As-Safir, wo eine Rakete mit einem Gefechtskopf mit VX getestet wurde. Wahrscheinlich war es Sabotage. Der Mossad hat sehr genau gesagt, was an der Rakete nicht funktioniert hat. Das kann man von außen eigentlich nicht wissen. Die Syrer haben 20 Tote angegeben, in Wirklichkeit starben wohl 200 Menschen.
Fürchten Sie, dass Präsident Assad chemische Waffen einsetzt?
In diesem unübersichtlichen Feld in Syrien, wo es keine festen Fronten gibt, ist der Einsatz von Chemiewaffen extrem schwierig. Denn Sie haben keinen Einfluss auf deren Wirkung. Wenn der Wind dreht, ist Schluss. Aus meiner Erfahrung gilt: Es wird viel über den Einsatz chemischer Waffen gesprochen. Aber seit dem Ersten Weltkrieg ist das nur äußerst selten geschehen – eine Ausnahme ist der Irak unter Saddam Hussein.
Die Gefahr ist dann, dass die Waffen in die Hände Unbekannter fallen, sollte die syrische Armee die Kontrolle verlieren.
Über den Lagern kreisen natürlich längst die Drohnen, und die Spezialtruppen der Amerikaner wissen sehr genau, was wer wo macht. Angesichts der großen Menge von tausenden Tonnen chemischer Kampfstoffe schließe ich nicht aus, dass die internationale Gemeinschaft notfalls per Luftlandung eingreift, um die Stätten zu sichern. Dabei könnten sogar die Russen mitmachen.
Die USA haben angeblich geschätzt, dass dazu 75 000 Soldaten nötig wären ...
Diese Zahl bezweifle ich. Wenn sie viele Soldaten brauchen, wird die Operation nicht stattfinden. Denn 75 000 Soldaten kommen nur über eine Landintervention nach Syrien. Aber wenn sie schnell und überraschend die Lagerstätten absichern wollen, müssen sie aus der Luft kommen. Ich gehe davon aus, dass die großen Nationen das könnten.
Das Gespräch führte Andrea Nüsse.
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