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Parkschützer auf türkisch. Der junge Mann auf der Parkbank des Taksim-Platzes hat auch seine Erholungspause in die seit einer Woche umkämpfte Zone verlegt.

© AFP

Proteste in der Türkei: Die Generation Gezi-Park

Die Demonstranten wollen mehr Demokratie und Menschenrechte in der Türkei – doch Erdogan nennt sie „Terroristen“. Zugeständnisse lehnt er ab.

Auch nach einer Woche heftiger Straßenproteste gegen seine Regierung sieht Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan keinen Grund zum Einlenken. Kurz vor der Rückkehr von einer viertägigen Auslandsreise am Donnerstagabend sagte Erdogan, „Terrorgruppen“ und Ausländer hätten die Demonstranten unterwandert, und lehnte Zugeständnisse ab. Zugleich drohte er mit neuen Polizeiaktionen. Damit wächst der Graben zwischen dem 59-jährigen Regierungschef und den mehrheitlich jungen Demonstranten.

Erdogan sagte in Tunis, der letzten Station einer Reise durch Nordafrika, er nehme jene Demonstranten, die aus „Gefühlen für die Umwelt“ heraus auf die Straße gegangen seien, von seiner Kritik aus. Dennoch bekräftigte er, auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul, dem Ausgangspunkt der Proteste, werde eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Kaserne wiederaufgebaut. Der Verzicht auf dieses Projekt ist eine der Hauptforderungen der Protestbewegung. Erdogan ging sogar noch einen Schritt weiter und sagte, das „Atatürk-Kultur-Zentrum“ (AKM) in der Nähe des Gezi-Parks werde abgerissen und durch ein modernes Opernhaus ersetzt. Das AKM hat hohe symbolische Bedeutung für die türkischen Säkularisten, die Erdogan eine islamistische Politik vorwerfen.

Der Ministerpräsident sagte, die Protestbewegung sei von der linken Gruppe DHKP/C, die im Februar den Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara verübte, und anderen „Terrorgruppen“ infiltriert worden. Zugleich deutete er an, dass die Polizei, die sich am vergangenen Samstag vom Gezi-Park zurückgezogen hatte, erneut gegen die dortigen Demonstranten vorgehen könnte. „Wenn ihr sagt: ‚Ich demonstriere, wo ich will, ich brenne nieder und zerstöre‘, dann werden wir das nicht erlauben.“ Die Istanbuler Börse ging nach den Äußerungen des Premiers in den Sturzflug.

Nach viertägiger Auslandsreise ist der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan in die Türkei zurückgekehrt. Am Flughafen von Istanbul wurde der Ministerpräsident in der Nacht zum Freitag von tausenden jubelnden Anhängern seiner Regierungspartei AKP empfangen. Auf dem Istanbuler Taksim-Platz hatten zuvor erneut tausende Menschen demonstriert und Erdogans Rücktritt gefordert. Mehr als 3000 Anhänger schwenkten am Atatürk-Flughafen türkische Flaggen und skandierten Parolen wie „Wir würden für Dich sterben, Erdogan!“ oder „Der große Meister kommt.“ Erdogan lächelte und winkte seinen Anhängern zu.

In mehreren Städten ging die Polizei unterdessen weiter gegen Protestmärsche vor; in Adana starb ein Beamter an den Verletzungen, die er sich beim Sturz von einer Straßenüberführung zugezogen hatte. Er war das dritte Todesopfer der Proteste. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, nannte das Verhalten der Sicherheitskräfte „schockierend“. Grünen-Chef Cem Özdemir wollte am Donnerstagabend den Gezi-Park besuchen. Auch in Berlin zeigten sich Demonstranten solidarisch.

Nach einer Umfrage handelt es sich bei den Mitgliedern der Protestbewegung um meist junge Leute: Zwei Drittel der Demonstranten sind demnach jünger als 31 Jahre, 53 Prozent marschierten zum ersten Mal bei Kundgebungen mit, nur 15 Prozent haben parteipolitische Affinitäten. Neun von zehn wurden durch Erdogans autoritären Regierungsstil auf die Straße getrieben. Der Gezi-Park, wo die Protestwelle mit einem Sit-in gegen Erdogans Bauprojekt begann, ist zum Symbol dieser Generation geworden.

Dass Tausende von jungen Leuten durch die Ereignisse politisiert worden sind, könnte für die Türkei zu einem Wendepunkt werden. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte des Landes haben sich im größeren Rahmen unterschiedliche Gruppen zusammengefunden, um außerhalb von Wahlen die Dinge zu verändern. Als Ziele der Protestwelle nannten die meisten Befragten der Umfrage der Istanbuler Bilgi-Universität ein Ende der Polizeigewalt und mehr Respekt von Regierung und Behörden gegenüber den Freiheitsrechten der Bürger.

Experten gehen davon aus, dass sich die Veränderungen im Land durch die Polizeieinsätze nicht mehr aufhalten lassen. Die Erdogan-Regierung habe in den vergangenen Jahren den Menschen die Luft abgedreht, schrieb die Soziologin Nilüfer Göle in einem Blog: Der öffentliche Raum, in dem Regierung und Wirtschaftsinteressen nichts zu sagen hätten, sei immer kleiner geworden. Die Gezi-Park-Bewegung habe ihn wieder erweitert.

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