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Für Menschen mit wenig Geld ist der Umgang mit Gerichten und Behörden oft schwieriger.

© dpa/Armin Weigel

Wie gerecht ist das deutsche Recht?: „Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse spiegeln sich auch in der Justiz wider“

Die Gleichheit vor dem Gesetz sei in hohem Maße gewährleistet, heißt es aus dem FDP-geführten Bundesjustizministerium. Wissenschaftler*innen halten dagegen.

Stand:

Die Ampel will das deutsche Rechtssystem nicht nur schneller und effektiver, sondern auch gerechter machen. Vor allem im Bereich gleicher Zugang zum Recht liegt bislang noch einiges im Argen, meinen Expert*innen.

Vor dem Gesetz sind nicht alle Menschen gleich sind, so heißt ein Buch, für das der Journalist und Jurist Ronen Steinke zwei Jahre lang in Gerichtssälen recherchierte.

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Er wirft den deutschen Gerichten Klassenjustiz vor. Steinke schreibt: Die Justiz begünstige jene, die begütert seien. Und sie benachteilige jene, die nichts hätten. Ob dem tatsächlich so ist, lässt sich empirisch schwer belegen, doch mit der Einschätzung ist er nicht allein.

Das Buch lege den Finger in die Wunde, sagt Tobias Singelnstein, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Er sagt: Menschen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status werden oft auch dafür bestraft, dass sie anders leben als die Mehrheitsgesellschaft, der die Justiz verbunden ist.

Ein Ladendiebstahl wird schneller entdeckt als eine Steuerhinterziehung

„Darüber hinaus ist die Kontrollintensität bei Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen, deutlich höher. Und die Taten sind besser sichtbar.

Ein Ladendiebstahl wird schneller entdeckt als eine Steuerhinterziehung.“ Stecke man erstmal in der „Justizmühle“, wie er sie nennt, seien die Ressourcen damit umzugehen, sehr ungleich verteilt.

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Vor allem bei leichten Delikten wird oft das vereinfachte schriftliche Strafbefehlsverfahren angewandt, bei dem es gar nicht erst zu einer Hauptverhandlung kommt.

Das klinge zwar erstmal gut, benachteilige arme Menschen und solche mit einem geringen Bildungsgrad jedoch strukturell. „Da kommt es oft vor, dass die Betroffenen gar nicht verstehen, was passiert und was sie dagegen unternehmen können, und belassen es dann dabei.

Und viele Richter*innen tendieren dazu, solche Anträge recht schnell zu unterschreiben. Eine sorgfältige Prüfung des Sachverhalts wie in der Hauptverhandlung entfällt dann.“ 

Wirtschaftsdelikte sind komplizierter nachzuweisen. Und werden oft von hochdotierten Verteidiger*innen begleitet.  „Die Justiz ist ja auch froh, über jeden Sack, der zugemacht werden kann.

Bevor sie sich da auf jahrelange Hauptverhandlungen einlässt, wird das Verfahren dann lieber gegen eine hohe Strafe eingestellt, so wie bei Helmut Kohl und der Spendenaffäre. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse spiegeln sich auch in der Justiz wider.“

Der soziale Status hat auch einen wesentlichen Einfluss darauf, ob Beklagte in Untersuchungshaft müssen. „Faktoren, die gegen U-Haft sprechen, sind etwa Eigentum.

Wer arbeitslos oder sozial nicht gut eingebunden ist, hat viel schlechtere Karten. Das führt zu Benachteiligung und diese wiederum zu Stigmatisierung.“ Diesen Strukturen entgegenzuwirken, sei nicht einfach.

Bagatelldelikte könnten entkriminalisiert werden

„Bagatelldelikte, die sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen in besonderer Weise treffen, könnten entkriminalisiert werden. Und es müssten allen Angeklagten Verteidiger an die Seite gestellt und der Ökonomisierungsdruck rausgenommen werden, damit die Entscheidung nach Aktenlage wieder zur Ausnahme wird.“ Dass sich durch die Ampel-Koalition viel ändern wird, bezweifelt der Kriminologe.

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„Liberalisierung und Entkrimininalisierung, das mögen Themen sein, die die Ampel umtreiben, aber ich glaube der Abbau struktureller sozialer Benachteiligung steht auf ihrer Agenda nicht sehr weit oben.“

Im von der FDP geführten Bundesjustizministerium (BJM) heißt es, die Gleichheit vor dem Gesetz sei in Deutschland in hohem Maße gewährleistet. Es gebe viele Instrumente und Institutionen, die den Zugang zum Recht auch für ärmere Menschen gewährleisteten.

Die allgemeine These, dass es in Deutschland ein besonderes Problem mit Ungleichheit vor dem Gesetz gebe, teile er nicht, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann unlängst im Tagesspiegel-Interview.

„Unter den Blinden ist der Einäugige der König.“

Im Vergleich zu Großbritannien und den USA etwa schneide Deutschland gut ab. „Dort sind die Prozesskosten oft so hoch, dass die Leute enorm abgeschreckt sind und sie deshalb häufig nicht klagen. In Deutschland stehen wir besser da. Wir haben nicht nur geringere Kosten, sondern kennen auch die Prozesskostenhilfe.“ 

Das überzeugt Singelnstein nicht: „Unter den Blinden ist der Einäugige der König.“

Michael Wrase, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hildesheim, sieht den gleichen Zugang zum Recht für alle nicht als gegeben an. „Ja, es gibt in Deutschland die Prozesskostenhilfe. Aber das wird sehr restriktiv gehandhabt, die Hürde ist groß. Auch gibt es bei der Inanspruchnahme kaum Hilfestellung – so dass sie für viele dann eben doch nicht genutzt werden kann. “ 

Bei der Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe fehlten Hilfestellungen

Wrase ist der Ansicht, dass Bildungsstand und finanzielle Möglichkeiten einen enormen Einfluss darauf haben, wie man vor Gericht behandelt wird und ob und wie man sich gegen Maßnahmen und Sanktionen wehrt. 
Seit einem Jahr leitet der Jurist die breit angelegte Studie „Zugang zum Recht in Berlin“, in der untersucht werden soll, wie der Zugang für Bürgerinnen und Bürger zu Recht und Justiz in Berlin gewährleistet ist.

Dabei werden im Auftrag der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung die spezifischen rechtlichen, institutionellen, materiellen und sozialen Barrieren beim Zugang zu den Justizbehörden analysiert.   Für diese wurden neben Betroffenen auch 41 Interviews mit Expert*innen, Richter*innen und Anwält*innen geführt. Besonders interessant sei dabei gewesen, dass alle Richter*innen davon überzeugt gewesen seien, alle Menschen gleich zu behandeln, während etwa Beratungsstellen, die benachteiligte Personen oder Migrant*innen vertreten, die mangelnde Sensibilität der Justiz für die Problemlagen der Betroffenen kritisieren und von diskriminierenden Praktiken berichten.

„Diese Perspektiven schließen sich nicht aus, zeigen aber wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist.“ Vor allem im Wohnungsmietrecht verlören Menschen, die diesen Gruppen zuzuordnen seien, deutlich öfter Prozesse. Auch, weil sie zu wenig beraten und schlecht bis gar nicht vertreten würden, meint Wrase.

Betroffene empfinden Ablehnungspolitik oft als willkürlich

Anders sei es allein im Sozialrecht: „Das Sozialgericht wird von den Rechtssuchenden meist positiv wahrgenommen. Es kann ausgleichende Funktion haben und ist ein wirksames Instrument, um gegen die aus Sicht der Betroffenen geradezu willkürliche Ablehnungspolitik der Jobcenter vorzugehen.“ 

Von der Agentur für Arbeit fühlen sich benachteiligte Menschen oft gegängelt und willkürlich bestraft.

© dpa/Hendrik Schmidt

Dort würden häufiger zu Unrecht Leistungen versagt oder Sanktionen verhängt. „Es gibt inzwischen viele Anwält*innen, die sich darauf spezialisiert haben, das verbessert die Rechtsdurchsetzung.

Viele ähnlich gelagerte Fälle, da wird über die Masse dran verdient. Die Sozialgerichtsbarkeit ist kostenfrei, das macht Klagen niedrigschwelliger.“ 
Anders als Justizminister Buschmann ist Wrase der Ansicht, dass Deutschland sich hinsichtlich seines Rechtssystems auch einiges von Großbritannien abschauen könne.

„Dort gibt es die Legal Aid Agency mit einem weiten Netz von Beratungsstellen, oder auch Servicestellen, bei denen man relativ leicht eine Ersteinschätzung einholen kann. Unser System ist justizbezogener ausgerichtet.“ Ein großes Vorbild sei aber auch das Vereinigte Königreich nicht, gerade in den vergangenen Jahren habe es dort enorme Kürzungen gegeben. 

Sozialrecht wird oft positiv wahrgenommen

Zahlen zeigen: Benachteiligte Menschen nehmen mehr hin, verzichten eher auf die Durchsetzung ihrer Rechte – weil die sozialen Netzwerke, aber auch die Kenntnisse fehlen.

„Das Rechtssystem ist komplex, die wenigsten Menschen kennen sich aus. Wir vermuten, dass Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger auf der Beklagtenseite anzutreffen sind und keine anwaltliche Vertretung haben. Ob das tatsächlich so ist, wollen wir durch eine Analyse der Prozessdaten herausfinden.“ 

Für die Anwält*innen sei ihre Arbeit in vielen Prozessen kaum kostendeckend und wer die PKH beantrage, arbeite nicht selten auf Vorkasse. „In Deutschland besteht die weit verbreitete Ansicht, dass die Justiz für alle gleich zugänglich sei, was aber nur die formale Seite ist. Schaut man darauf, wer Rechte tatsächlich durchsetzen kann, dann ist die soziale Realität natürlich eine andere.“

Die Justiz müsse sich dem stellen. Dabei sind größere Anstrengungen als bisher gefragt, und es müsse mehr Forschung geben. Auch das FDP geführte Bundesministerium sei da in der Pflicht.

Die Ampel hat viele Pläne

Pläne hat die Ampel genug: So ist im Koalitionsvertrag vereinbart worden, das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche zu prüfen.

Dabei soll ein Fokus auf historisch überholten Straftatbestände, der Modernisierung des Strafrechts und der schnelle Entlastung der Justiz liegen.  Auch soll die Zahl der Personen, die eine gegen sie verhängte Geldstrafe nicht bezahlen können oder wollen und die Strafe dann im Gefängnis im Rahmen einer Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, verringert werden.

Marco Buschmann (hier mit Anne Spiegel und Karl Lauterbach) und seine Ampel-Kolleg*innen haben viele Pläne.

© imago images/Future Image

Im Koalitionsvertrag ist daher vereinbart worden, das strafrechtliche Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen zu überarbeiten. 

[Lesen Sie auch: Justizminister Marco Buschmann: „Wir sollten den Menschen nicht mehr Angst einjagen, als es angezeigt ist (T+)]
Die Pflichtverteidigung von Beschuldigten soll mit Beginn der ersten Vernehmung sichergestellt werden. Denn bereits im Ermittlungsverfahren würden oft wichtige Weichen gestellt und einschneidende Maßnahmen, wie die Anordnung von Untersuchungshaft, ergriffen, die unabhängig vom Ausgang des Verfahrens erhebliche Auswirkungen auf das Leben des Beschuldigten haben können, heißt es dazu aus dem Justizministerium.

Was die Umsetzung der hehren Ziele angeht, bleibt Tobias Singelnstein skeptisch. „Die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag bezüglich des Strafrechts eine Reihe spannender und längst überfälliger Projekte vorgenommen. Was davon dann wie umgesetzt wird, muss man abwarten.“

Lea Schulze

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