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Öffentlicher Raum in Corona-Zeiten: Bürger einzeln, die Polizei in Gruppen. Aktuell ist das noch mehrheitsfähig. (Archivfoto aus Österreich)

© dpa

Über die Hyperkomplexität der Corona-Krise: Nicht Einzelne sind infiziert, sondern die ganze Gesellschaft

Der Umgang mit der Virus-Pandemie stellt Politik und Bürger vor schwer aufzulösende Zielkonflikte. Der Ausnahmezustand überdeckt sie. Ein Gastbeitrag.

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Universität München.

Das Virus ist unsichtbar. Wir nehmen es nur an seinen zeitversetzten Wirkungen wahr: als Infektion, als Krankheit, vor allem aber als Reaktion der Gesellschaft darauf.

Man kann wirklich sagen: Nicht nur menschliche Körper sind infiziert, sondern auch die Gesellschaft – und wie menschliche Körper versucht sie sich an Immunreaktionen und gerät damit bis an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit.

Es ist also nicht nur die Stunde der Mikrobiologie, sondern auch die Stunde der Makrosoziologie. Überhaupt gelingt es gerade weniger als in früheren Epidemien, die Sache einfach als ein Naturphänomen abzutun.

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Denn seine Verbreitung und Gefahr rechnen wir vor allem menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Strukturen zu: der Globalisierung, dem Waren- und Personenverkehr, der Kontaktsensibilität unseres Verhaltens und der Potenz des Gesundheitswesens, nicht zuletzt den finanziellen Möglichkeiten, eine angemessene Infrastruktur vorhalten zu können, vielleicht sogar erzwungener Sparpolitik auf Kosten solcher Infrastrukturen. Es stimmt also: In erster Linie ist die Gesellschaft infiziert.

Eine moderne Gesellschaft kann nicht aus einem Guss reagieren. Sie ist, so der soziologische Fachbegriff dafür, funktional differenziert. Die Funktionssysteme reagieren mit je unterschiedlichen Logiken und müssen unterschiedliche Probleme lösen.

Maßnahmen, um Probleme zu lösen, widersprechen sich

Das politische System muss kollektiv bindende Entscheidungen ermöglichen, das Wirtschaftssystem mit Knappheiten umgehen, das Wissenschaftssystem Wahrheitsfragen beantworten, das Rechtssystem normative Erwartungssicherheit garantieren und das medizinische System sich an Krankheiten orientieren. Das hört sich banal an, ist es aber nicht, denn diese Problemlösungstools widersprechen sich bisweilen.

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]

Zunächst fällt aber auf, dass derzeit etwas geschieht, was soziologisch ausgeschlossen schien, nämlich dass das politische System quasi durchregieren kann, also durch politische Entscheidungen in das wirtschaftliche Leben, in das Bildungssystem und in rechtlich garantierte Standards eingreifen kann.

Funktionale Differenzierung schließt das aus – außer in Zeiten, die man einen Ausnahmezustand nennen kann. Zumeist waren das Kriegszeiten, in denen das Wirtschaftssystem, das Bildungssystem, das Recht, sogar Religion in den Dienst der kollektiven Sache gestellt werden konnte.

Natürlich befinden wir uns nicht im Krieg

An der Rede von Queen Elizabeth II. an die britische Bevölkerung konnte man es sogar explizit hören: Entdifferenzierung durch Beschwörung eines kriegsähnlichen Ausnahmezustandes. Natürlich befinden wir uns nicht im Krieg, aber der Einstieg in den Krisenmodus hat diesen Ausnahmezustand suggeriert.

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Anders verhält es sich nun angesichts von Diskussionen um das schrittweise Zurücknehmen dieses Zustandes. Dieser lässt sich viel weniger im Krisenmodus selbst bewerkstelligen. Jetzt reagiert die Gesellschaft wieder, wie sie es stets tut: in der Vielheit ihrer Stimmen und der Mehrdimensionalität ihrer Problemlösungskapazitäten. Und hier fällt nun auf, dass sie eben nicht aus einem Guss ist. Wir erleben derzeit Zielkonflikte, die koordiniertes Handeln schwierig machen.

Müsste man aus medizinischer Perspektive für einen längeren Verbleib im Modus eines konktaktreduzierten Alltags bleiben, wird man aus wirtschaftlichen Gründen für eine möglichst frühe Rückkehr zur Rücknahme von Kontaktverboten plädieren, und zwar auf der Produktions- wie auf der Konsumtionsseite. Wer im ersten Fall an übertriebene Vorsicht denkt und im zweiten nur an wirtschaftliche Gewinninteressen, hat nicht begriffen, wie vernetzt und abhängig das eine vom anderen ist.

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Man wird darauf stoßen, dass der lange Shutdown auch medizinisch relevante Folgen zeitigt – etwa Opfer von Gewalt und Suiziden oder auch Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit der Bevölkerung.

Den womöglich vermeintlich vermiedenen Corona-Toten könnten andere Tote gegenüberstehen. Und wer vom wohlstandsmoralischen Feldherrnhügel klammheimlich das Zurückfahren der Globalisierung und der Verflechtung von Wertschöpfungsketten begrüßt und sich fürs Klima freut, begreift nicht, dass die Abkoppelung von den globalen Wertschöpfungsketten im globalen Süden katastrophale Folgen haben kann.

Es geht nicht nur um das Richtige

Und wer meint, dass wissenschaftliches Wissen so viel Eindeutigkeit erzeugen könne, dass sich medizinische Wirksamkeit eindeutig planen lässt, unterschätzt die Komplexität des Transfers von Wissen in Praxisfelder.

Der Beispiele wären viele – und übrigens bleibt Politik nach wie vor Politik. Sie ist doppelcodiert: Es geht nicht nur um die Umsetzung des Richtigen, sondern politische Akteure müssen damit auch Massenloyalität erzeugen und sich gegen andere politische Akteure durchsetzen, politisch wohlgemerkt, in der eigenen Partei und in anderen.

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Aus diesen Zielkonflikten gibt es kein Entrinnen – und man wäre naiv und würde die Problemlage unterschreiten, wenn man das Gelingen des Ausstiegs an die Moral der gemeinsamen Einsicht, an Solidaritäts- oder Anerkennungsforderungen bindet.

Wir haben es zum Beginn der Krise gesehen, dass der Appell an Einsichtsfähigkeit und Vernunft nicht die entsprechenden Wirkungen erzielt hat, die Menschen zu sparsameren Kontakten zu ermutigen. Die in ihrer Selbstbeschreibung Einsichtsfähigen haben geradezu um die Macht des Staates gebeten.

Der Versuchsaufbau ist also anspruchsvoller – und da offensichtlich die Gesellschaft selbst infiziert ist, stellt sich die Frage, welche Rolle die Soziologie bei der Bewältigung der Krise spielen kann.

Wir sind keine Reflexionstheorie für eines der Funktionssysteme wie die Nationalökonomie fürs Wirtschaftssystem, die Jurisprudenz für das Recht oder die Theologie für die Religion. Wir sind auch keine Wissenschaft positiv vorliegender Gegenstände wie etwa Viren.

Wenn es gelingt, Soziologie als mehr zu betreiben als nur als Reflexion ihres eigenen Milieus, sind wir eine Wissenschaft, die das Verstricktsein gesellschaftlicher Akteure in die Gesellschaft beschreibt. Sie ist, in den Worten Adornos, eine Wissenschaft, die weiß, dass es keine Position außerhalb des Getriebes gibt.

Die Debatte über Exitstrategien offenbart Zielkonflikte

Ihr Beitrag wäre also der, gesellschaftliche Akteure darüber aufzuklären, dass solche Zielkonflikte, die wir gerade anlässlich der Diskussion von Lösungsszenarien für die Coronakrise beobachten müssen, nicht einfach das Ergebnis kontingenter Interessen oder mangelnder Einsicht sind, sondern in der Struktur der Gesellschaft selbst gründen. Das zu wissen, könnte dazu beitragen, Lösungen durch Verfahren, durch die Konfrontation der unterschiedlichen Zielkonflikte miteinander zu ermöglichen.

In meiner eigenen Münchner Forschungsgruppe befassen wir uns seit Jahren mit solchen Settings: wie Recht, Medizin, Politik und Betroffene mit Intersexualität umgehen und wie hier Zielkonflikte bearbeitet werden, wie im Bereich der Lebendorganspende Zielkonflikte zwischen unversöhnlichen Positionen organisiert werden oder wie in der Palliativmedizin unterschiedliche Professionen nicht nur kooperieren, sondern auch ganz unterschiedliche Probleme lösen.

All dies sieht aus wie Blaupausen für das, was die Gesellschaft gerade leisten muss: zwischen der Unmöglichkeit einer vollständigen Handlungskoordination und der Notwendigkeit politischer Entscheidungen zu vermitteln.

Entscheidend ist also, die infizierte Gesellschaft und den Prozess der Entscheidungsfindung darüber aufzuklären, warum solche Zielkonflikte und die Kosten und Nebenfolgen unterschiedlicher Lösungen unvermeidbar sind - und wie hier Abwägungsprozesse am Ende doch zu politischen Lösungen führen können, die sowohl medizinisch als auch ökonomisch und lebensweltlich funktionieren können.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags für das digitale Colloquium "Soziologische Persektiven auf die Corona-Krise", das von ihm gemeinsam der Präsidentin des WZB, Jutta Allmendinger, organisiert wird und bis Juni jeden Mittwoch stattfindet. Mehr Infos finden Sie hier.

Armin Nassehi

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