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Wo Wladimir Putin noch ein freundlicher Mann ist. Wandgemälde mit dem russischen Präsidenten im serbischen Belgrad.

© AFP

Kniefall vor dem starken Mann: Die schöngeredete Vergewaltigung

Wie Neurechte, Pazifisten und Nationalisten auf die russische Ukraine-Invasion blicken. Ein Gastbeitrag.

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ist Internationaler Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London. Bei wbg Theiss erschien zuletzt seine Kolumnensammlung „Unordnung im Himmel – Lageberichte aus dem irdischen Chaos“. Copyright: Project Syndicate, 2022, www.project-syndicate.org. Deutsche Fassung: dotz

Eine der jüngsten Krisen im Norden des Kosovo kam und ging schnell, weil niemand eine Eskalation wollte. Aber sie wird zurückkehren, weil Russland im Schatten des Balkans manövriert, um genau die Spannungen zu schüren, die sie ermöglichten.

Die kosovarische Regierung hatte angekündigt, die im Norden des Kosovo lebenden Serben zu verpflichten, ihre serbischen Autokennzeichen gegen regionale Nummernschilder auszutauschen. Aber die Serben protestierten, sie errichteten Straßenblockaden an zwei Grenzübergängen, es soll sogar zu Schüssen gekommen sein. Die Maßnahmen wurden um einen Monat verschoben.

Serbien hatte lange eine ähnliche Regelung für kosovarische Nummernschilder, das Kosovo versuchte also nur, den gleichen Standard anzuwenden. Das Problem ist natürlich, dass Serbien das Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkennt, obwohl die Vereinigten Staaten und rund 100 andere Länder dies tun.

Dies wäre eine rein regionale Geschichte, wenn sie durch Russlands Angriffskrieg nicht eine geopolitische Dynamik entfalten würde. Wie Vladimir Dukanovic, ein Abgeordneter der regierenden Serbischen Fortschrittspartei, der Russlands Begründung für die Invasion auf den Punkt brachte, sinnierte: „Serbien könnte gezwungen sein, sich an der ,Entnazifizierung‘ des Balkans zu beteiligen.“

Groteske Linie des Kreml

Die Worte „gezwungen, sich zu beteiligen“ spiegeln die groteske Linie des Kremls, man sei durch eine Nato-Aggression provoziert worden, in die Ukraine einzumarschieren. Außerdem folgt Dukanovics Verweis auf „den Balkan“ der gleichen russischen Logik, der zufolge ganz Europa, gefangen im Strudel selbstzerstörerischer Entartung (LGBTQ+, gleichgeschlechtliche Ehe, keine klaren Geschlechterunterschiede usw.) „entnazifiziert“ werden müsse.

Wie Alexander Dugin, der Hofphilosoph des russischen Präsidenten Wladimir Putin, erklärt: „Wir kämpfen gegen das absolute Böse, wie es in der westlichen Zivilisation verkörpert ist, in ihrer liberal-totalitären Hegemonie und im ukrainischen Nazismus...“

Dieser Doktrin nach laufen Nazismus, Kommunismus und woker Hedonismus auf dasselbe hinaus. Aber diese Einebnung von Gegensätzen ist selbst für einen Hardline-Hegelianer wie mich zu viel. Sie offenbart die eklatante Inkonsistenz nicht nur der Kreml-Propagandisten, sondern auch der prorussischen Alt-Right in den USA und in Europa, die behauptet, traditionelle christliche Werte zu verkörpern, obwohl ihre Worte und Taten Völkermord billigen und sexuelle Gewalt verherrlichen.

Als führender Akteur in diesem Kulturkampf interveniert der Kreml über seine Stellvertreter nicht nur im Kosovo, sondern auch in Bosnien, das er vor einer Nato-Mitgliedschaft warnte. Leider haben sich die westlichen Linken und Pazifisten dafür entschieden, die geopolitische Dimension von Putins „Entnazifizierungsprojekt“ zu ignorieren.

Wie Jeremy Corbyn, der ehemalige Vorsitzende der britischen Labour Party, klagte: Die Ukraine „mit Waffen zuzuschütten, wird keine Lösung bringen, es wird diesen Krieg nur verlängern und auf die Spitze treiben“.

Stillschweigend enthalten in dieser Position ist, dass westliche Regierungen die Besetzung der Ukraine einfach zulassen sollten. Doch es ist ein merkwürdiger „Pazifismus“, der Druck auf das Opfer und seine Unterstützer ausübt statt auf den Angreifer.

Entdmänisieren? Redämonisieren!

Westliche „Pazifisten“ bestehen darauf, Putin zu „entdämonisieren“: Es wird früher oder später irgendeine Art von Verhandlungen geben müssen, also sollten wir ihn als zukünftigen Partner behandeln. Tatsächlich sollten wir genau das Gegenteil tun: Der Angriff auf die Ukraine zwingt uns, Putin als Exponenten eines gefährlichen geopolitischen und ideologischen Projekts zu redämonisieren.

Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass Russland sich in etwas verwandelt, das den Bewohnern der westlichen Demokratien von Grund auf fremd ist, Kennern der europäischen Geschichte aber nur allzu vertraut. Betrachten wir den jüngsten Vorschlag der Russischen Liberaldemokratischen Partei, den Begriff Präsident durch „Pravitel“ (Herrscher) zu ersetzen.

Ersteres hat, so die Partei, „uns immer in Verlegenheit gebracht“, weil es zuerst in den USA verwendet wurde und sich erst „viel später“ im Rest der Welt verbreitete.

Während die Neue Rechte ideologisch vor allem auf die westliche „Degeneration“ zielt, ist ihre Faszination für die Herrschaft des starken Mannes von Obszönität durchdrungen. In einem Wahlkampfauftritt schwärmte Kari Lake, die republikanische Gouverneurskandidatin in Arizona, unlängst, dass ihre republikanischen Kollegen Donald Trump und Floridas Gouverneur Ron DeSantis „Big Dick Energy“ hätten.

Dies ist weniger ein kontingentes als ein notwendiges Merkmal der Verteidigung des Christentums durch die Neue Rechte. Um Anhänger zu gewinnen, müssen die Führer zusätzlichen Lustgewinn über das Obszöne anbieten. Eine Ideologie, die es ihren Anhängern erlaubt, aus ihren schlimmsten Impulsen heraus zu handeln, kann Millionen mobilisieren.

"Legitime Vergewaltigung"

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Ist Russlands „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine nicht wie die „legitime Vergewaltigung“, die der US-Abgeordnete Todd Akin, damals republikanischer Senatskandidat aus Missouri, 2012 definierte? Akin zufolge sollte Abtreibung verboten werden, wenn eine Frau eine „legitime Vergewaltigung“ erleidet: Ihr Körper werde sich einer Schwangerschaft dann schon erwehren.

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Angesichts der Empörung über seine Bemerkung behauptete Akin später, er habe sich „falsch ausgedrückt“. Er habe „legitime Fälle von Vergewaltigung“ gemeint, auf die sich die Polizei bezieht, „wenn sie eine Untersuchung durchführt oder was auch immer“. Aber seine Botschaft blieb: Wenn eine Frau durch Vergewaltigung schwanger wird, muss sie es insgeheim gewollt haben. Sonst hätte die „Stress“ -Reaktion ihres Körpers es verhindert.

Es ist bezeichnend, dass Putin sich ähnlich über die Ukraine äußerte. Auf einer Pressekonferenz am 7. Februar spottete er über die Einwände der ukrainischen Regierung gegen das Minsker Abkommen und fügte hinzu: „Ob es dir gefällt oder nicht, es ist deine Pflicht, meine Schönheit.“ Die sexuellen Konnotationen dieser Worte sind Russen und Ukrainern aus „Dornröschen in einem Sarg“ der Punkrockband Red Mold aus Sowjetzeiten bekannt: „Mein Liebling liegt in seinem Sarg, ich sprang hinein und fing an, es ihr zu besorgen. Ob sie es mag oder nicht, es ist ihr Los.“

Daraus folgt, dass die Vergewaltigung eines Landes manchmal gerechtfertigt ist. Das Opfer hat schließlich darum gebeten. Wie bei einer Vergewaltigung ist das, was die Neue Rechte motiviert, nicht Liebe, sondern Herrschaft über das Objekt.

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