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Wolf Biermann

© dpa

Brief Wolf Biermanns an Matthias Büchner: "Diese rot-rot-grüne Gespensterhochzeit!"

Der Liedermacher Wolf Biermann hat in einem Brief an den Thüringer Bürgerrechtler Matthias Büchner seinem Herzen Luft gemacht über die anstehende rot-rot-grüne Koalition unter Führung eines Ministerpräsidenten der Linkspartei. Wir geben den Brief nachfolgend im Wortlaut wieder.

"Lieber Matthias Büchner,

es ist reiflich überlegt: Nein, ich mache mich nicht auf die Reise zu Eurer Demonstration nach Erfurt am 4. Dezember. Ich will weder ansingen noch anreden gegen diese rot-rot-grüne Gespensterhochzeit! Das falsche Ding ist da gelaufen. Sollen doch die linksalternativen Thüringer Würstchen sich von Gysi & Co in die Pfanne hauen lassen!

Wirklich Leid und auch weh tut mir die Rolle der SPD in dieser Provinzposse. Mein Herz schlug immer für die Erben von August Bebel und Ferdinand Lassalle, ich achte Wilhelm Liebknecht, den klugen Vater des ermordeten Märtyrers. Zu meinen Helden gehört auch der todesmutige Sozialdemokrat Otto Wels, der in der allerletzten Rede im Reichstag der braunen Bestie beherzt in den Rachen griff, als er die Zustimmung der SPD zu Hitlers Ermächtigungsgesetz verweigerte. Das waren zehn Wörter, die eingraviert sind in mein Gedächtnis: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Heute passiert es umgekehrt, man könnte sarkastisch sagen, es sei ein Fortschritt: Ja, Freiheit und Leben kann den Sozialdemokraten in der Demokratie zum Glück keiner mehr nehmen. Und nur noch sie sich selbst: die Ehre.

Die SPD wurde nach der Nazi-Diktatur vom antistalinistischen Widerstandskämpfer wieder aufgebaut und später vom Visionär Willy Brandt zu neuen Ufern geführt: die vertrackte Ostpolitik. Ich habe als Kommunistenkind die Propagandaphrase aufgeschnappt und nachgeplappert: "Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!" – aber das war ungerecht und sogar niederträchtig. Die Geschichte hat es bewiesen: Sozialdemokraten waren fast immer die zuverlässigen Kärrner des Fortschritts, sozial gesinnt und treu demokratisch. Tolerante Linke eben, und keine großmäuligen Welterretter, sondern unermüdliche Weltverbesserer.

In der Zeitung las ich nun die Schreckensnachricht: 90 Prozent der SPD in Thüringen haben für eine Koalition mit der SED-PDS-Linke gestimmt. Mensch Büchner, hättest Du Dir das je träumen lassen, als Ihr 1989 mit dem Neuen Forum in Erfurt die Stasi-Zentrale stürmtet? Ein Albtraum! Nach der großen Friedlichen Revolution 1989 erleben wir jetzt also eine kleine friedliche Konterrevolution. Es ist keine Katastrophe, aber doch ein Kummer. Ach, lieber Freund, Dein genialer Namensvetter kannte diese irren Bocksprünge unserer Welt. Zu seinem Drama über die Jakobiner-Diktatur in Paris, "Dantons Tod", schrieb Georg Büchner: "Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte."

Die fatale Liaison der SPD mit dieser reaktionären Partei Die Linke ist ein schändlicher Frevel gegenüber der eigenen Geschichte oder, wie ein Talleyrand spotten würde: Kein Verbrechen, es ist noch schlimmer, es ist ein großer Fehler! Das Drama heißt: "Die falschen Roten fressen die echten Roten." Jetzt spielen die im Provinztheater – nach der Tragödie von 1946, also nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in Ost-Berlin – in Erfurt eine Reprise als Farce.

Ach! Und wie kann ich diesen verwelkten Grünen noch grün sein! Sie haben ausgerechnet in Erfurt verdrängt, dass sich die westdeutsche Partei Die Grünen 1990 mit den Bürgerrechtsbewegungen Neues Forum, Demokratie Jetzt und Initiative Frieden und Menschenrechte im Bundestag als Bündnis 90/Die Grünen vereinigt haben. Wenigstens aus einem Rest von alter, naiver Nostalgie sollten sie nicht gemeinsame Sache machen mit den totalitären Untoten der Stalinzeit.

Lieber Büchner, der Skandal in Erfurt ist immerhin eine Gelegenheit, Gregor Gysis historische Leistung angemessen zu würdigen. Gysi war der junge und kecke Rechtsanwalt, der meinem Freund Robert Havemann als eine Art Pflicht- oder Ersatzverteidiger von der Obrigkeit aufgezwungen wurde. Das passierte in den Turbulenzen meiner Ausbürgerung 1976, nachdem unserem vertrauten Advokaten, dem alten Kommunisten, Spanienkämpfer und Juden Dr. Götz Berger, vom Machtapparat seine Berufserlaubnis unrechtmäßig von heute auf morgen entzogen worden war, um ihn als Havemanns Rechtsanwalt auszuschalten.

Gregor Gysi, der Sohn des Altstalinisten Klaus Gysi, fungierte damals in der Hierarchie des Regimes natürlich höher als jeder beliebige IM "Notar". Er war Vorsitzender des handverlesenen Rechtsanwältekollegiums in Ost-Berlin. Gegen Ende der DDR gab es für 17 Millionen DDR-Bürger nur 530 Rechtsanwälte. Zum Vergleich: allein in der Stadt Hamburg arbeiten über 10.000.

Als der junge, clevere Genosse Gysi den altersschwachen Machtapparat zum historischen Schrottpreis übernahm, hieß die Partei noch SED. Gysi hat als weitsichtiger Interessenvertreter der DDR-Nomenklatura ein staatsrechtliches Kunststück zustande gebracht: Der Advokat schaffte es mit klugen Winkelzügen nach dem Tod der DDR-Diktatur, die tote Partei am Leben zu erhalten und aus dem Wachkoma wieder zu erlösen.

Wer weiß das schon: Die DDR-Staatspartei wurde nach der Wiedervereinigung niemals aus dem Parteienregister gestrichen, in das sie sich bei ihrer Gründung 1946 hatte eintragen lassen. Gut 40.000 der insgesamt rund 63.000 Mitglieder leben in Berlin und Ostdeutschland, und ihr Durchschnittsalter liegt bei über 60 Jahren.

Die SED wurde nur immer mal wieder umgebettet und umgetauft. Das geschah in kleinen Übergangsschritten und Sidesteps: Als am 9. Oktober auf dem Ring in Leipzig und dann auf dem Berliner Alex am 4. November darum gekämpft wurde, ob die Massenproteste eine Wende à la Egon Krenz und Markus Wolf herbeiführen werden oder ob das Volk eine echte Revolution erzwingt, da war Gysi offenbar schon strategisch im Einsatz für seine Firma. Aus der Staatspartei SED zauberte er eine SED-PDS.

Im nächsten Schritt hieß die Partei nur noch PDS. Schließlich schluckte die PDS die westliche WASG und nannte sich nun: Linkspartei.PDS. Rein juristisch ist auch diese neue Firma keine Vereinigung aus zwei Parteien, sondern die Westlinken traten der ehemaligen SED geschlossen bei, etwa so wie – komisch spiegelverkehrt – die DDR formaljuristisch der Bundesrepublik Deutschland 1990 beigetreten war. Es ist gut zu wissen, dass die Partei mit dem Fakenamen Die Linke nach wie vor die Rechtsnachfolgerin der SED ist, auch als "juristische Person".

Ohne alles Paragrafenkauderwelsch: Die SED/SED-PDS/PDS/Linkspartei.PDS/Die Linke ist zugleich rechtmäßiger Erbe der DDR-Diktatur. Die jetzigen Linken sind die politischen Verweser der SED-Nomenklatura. Sie haben das geistige Erbe des totalitären Ungeistes angetreten, und sie verfügen auch über das verschachtelt privatisierte materielle Erbe der DDR, den Raub aus Jahrzehnten: global geparkte Millionen und Milliarden, an die unser redlicher Schuldentilger und Finanzminister Schäuble leider nicht rankommt.

Natürlich kenne ich auch den Einwand mancher "Naivterkens" (ein Spottwort von Robert Havemann): Die Linke sei doch schon längst nicht mehr nur ein ostalgischer Rentnerverein für Kader des alten Machtapparats! Jaja, da kommen auch junge Gesichter ins Rampenlicht! – schön punkig rot gefärbte Struppelhaare. Ach, und diese gestylte Rosa-Luxemburg-Barbiepuppe! Und, lieber Büchner, selbstredend hat jeder Mensch das Recht, sich zu ändern, wenn er's denn endlich besser weiß und auch will und kann. Aber es ist ein Unterschied, ob irrende Menschen auf ihrem Lebensweg sich redlich wandeln oder nur zynisch wenden.

Wohl haben die jüngsten Nachwuchstalente in der Partei Die Linke keine persönliche Schuld am Unrechtsstaat DDR, schon gar nicht an den Völkermorden der Stalinzeit. Aber sie haben offenbar auch keine politische Nase, kein gutes Gedächtnis und kein ethisches Vorstellungsvermögen und keinen redlichen Charakter, denn sonst würden sie in diesem Schmierenstück nicht so verantwortungslos mitspielen. Es ist wirklich so, wie ich vor drei Wochen im Parlament Gysis bunter Truppe ins Gesicht sagte: Jeder einzelne Mensch ist ein vielschichtiger interessanter Roman – aber als Gruppe sind die Linken halt langweilig reaktionär. Ihre Hauptklientel besteht aus unbelehrbaren und aggressiven Kadern der gestürzten Parteidiktatur über das DDR-Volk.

Mich widert es an, wenn die Funktionäre der Linkspartei im Parlament populistische Sprüche klopfen und alle anderen belehren wollen über Freiheit, über Frieden, über Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Diese vier Begriffe bilden ja den Glutkern unserer Gesellschaft. Und genau auf diesen Gebieten haben diese smarten Diktaturprofis weder Kompetenz noch Verdienste. Die Freiheit haben Gysi und seine Genossen jahrzehntelang systematisch geknebelt. Sie haben diverse Kriege verteidigt, befördert und 1968 auch mitgemacht. Sie haben die Demokraten verachtet und geächtet. Im "realen Sozialismus" – also im DDR-System der Privilegien – wurde die soziale Gerechtigkeit besonders schamlos missachtet.

Gerecht verteilt war im Unrechtsstaat nur die Rechtlosigkeit, denn besonders erbarmungslos wurden auch die Mitglieder der SED verfolgt, wenn etwa ehrliche Genossen Wahrheiten sagten, die dem Bonzenpack nicht passten.

Also, lieber Freund und chronischer Rebell, ich komme dieses Mal nicht zu Euch nach Erfurt, nicht so wie mitten in der friedlichen Revolution, als ich am 25. Januar 1990 für Euch, für das Neue Forum in der Thüringenhalle sang. Und den dramatischen Auftritt vor hunderttausend Erfurtern auf dem Platz vor dem Dom will ich nie vergessen, als die befreiten Sklaven in der ersten blinden Wut ihre Peiniger lynchen wollten.

Wenn nun also Rot-Rot-Grün mit einer wackligen Stimme Mehrheit an die Macht kommt, nehme ich es halt hin wie einen kleinen Fußtritt des hegelschen Weltgeistes. Mir ist klar, dass die Demokratie auch in den blühenden Landschaften des Ostens nicht zusammenbrechen wird, wenn dieser weichgespülte Apparatschik aus dem Westen uns den lupenreinen Ministerpräsidenten macht. In Thüringen geht es zum Glück nicht mehr um Leben oder Tod.

Ich bin gerade tief im Schreiben, habe neue Lieder komponiert und Gedichte geschrieben. Mein Schicksal entschied sich nie in diversen Maulschlachten, sondern immer wieder vor dem weißen Blatt Papier. Und ich will darauf achten, dass ich im Streit der Welt meine Balance zwischen Empörung und Gelassenheit nicht verliere. Ich brauche dieses Gleichgewicht ja für jedes Gedicht. Mein sanfter Vater und meine starke Mutter, meine kluge und schöne Frau Pamela, meine vielen Kinder und meine drei, vier engsten Freunde wollen es so haben.

Nee, Matthias, ich mach mich jetzt nicht auf die kleine Reise nach Erfurt, ich laufe gerade jetzt nicht in die Jürgen-Fuchs-Straße Nummer 1. Ich denke lieber an "Die große Reise" von Jorge Semprún, dem Überlebenden aus dem KZ Buchenwald. Ich besuchte ihn in der Rue de l'Université in Paris – zu dem bin ich gern hingelaufen. Wir sprachen über sein neues Buch "Schreiben oder Leben". Wir disputierten über das Wörtchen "oder", denn mir geht es mit dem Schreiben genauso wie mit dem Leben: Starke Prosa kann noch schwerer sein als haltbare Poesie.

Ich umarme Dich, Bruderherz.

Grüße Du bitte die Freunde in Erfurt – und bitte um Nachsicht

für  

Wolf"

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