
© dpa/Philipp Schulze
Ein Dorf packt an: Ein 100-Einwohner-Ort will 750 Geflüchtete aufnehmen – kann das klappen?
Viele der Geflüchteten aus der Ukraine wollen gerne im urbanen Raum bleiben. Doch das Leben auf dem Land bietet für sie auch Chancen, meinen Experten.
Stand:
800 Meter Hauptstraße, drei Kurven, eine Bushaltestelle. Sonnenschein, strahlend blauer Himmel, ein Trecker fährt übers Feld. Alles wie immer - fast. Nur 111 Einwohner hat das niedersächsische Dorf Sumte an der Elbe.
Das wird sich nun binnen kürzester Zeit ändern. In nur einer Woche hat ein Team rund um die Projektleiter Holger Pilch vom Deutschen Roten Kreuz und Sebastian Hahn vom Arbeiter-Samariter-Bund einen ehemaliges Bürokomplex so umgebaut, dass rund 750 Geflüchtete aus der Ukraine hier leben können.
Jetzt sitzen die beiden bei einer Tasse Kaffee in ihrer Lagezentrale und wollen erzählen, wie es dazu kam, aber das ist gar nicht so einfach: Immer wieder klingeln Telefone, tauchen Fragen auf, werden Sachen gesucht.
„Ist gerade jemand hier, der ukrainisch spricht“, will der Architekt Marius Grewe wissen. „Wir müssen den Kindern sagen, dass sie auf den Gängen nicht Fahrrad und Inliner fahren können, die fahren uns die Handwerker über den Haufen.“

© dpa/Philipp Schulze
Inzwischen hat der Landkreis Lüneburg etliche Leute eingestellt, um dieses Mammutprojekt auf die Beine zu stellen, doch ohne Ehrenamtliche wäre es nicht gegangen.
130 Helfer waren Tag und Nacht im Einsatz, um die Anlage bewohnbar zu machen, Heizung, Strom und Wasser gab hier noch vor zwei Wochen nicht nicht.
Noch lange ist nicht alles fertig, ein Großteil der Anlage ist weiterhin Baustelle. Neben dem Zwitschern der Vögel ertönt immer von irgendwoher auch eine Kreissäge. Neu ist so ein Akt für die Sumter nicht. Schon 2015 nahm das Dorf 750 Geflüchtete auf und wurde mit dieser Geste auf der ganzen Welt berühmt. Sumte wird zum Sinnbild für die deutsche Willkommenskultur und den damit einhergehenden Kraftakt der Bevölkerung, Fernsehteams aus den USA, Japan, Russland, Katar und vielen anderen Ländern erzählen die Geschichte eines Dorfes, dass siebenmal so viele Leute aufnimmt, wie es Einwohner hat.

© dpa/
Damals sind nicht alle Menschen begeistert über die Aufnahme so vieler Geflüchteter, auch die Kommune selbst ist zunächst besorgt. „Wir haben ja hier nur Polizei von Montags bis Freitags, das muss ja alles sicher sein“, äußert eine Frau bei einer Informationsveranstaltung ihre Ängste. „Wie soll das gehen, wir haben doch selbst überhaupt keine Versorgungsmöglichkeiten hier im Ort, wir haben gar nichts“, kritisiert eine andere.
Durch die Unterkunft werden Arbeitsplätze geschaffen
Doch das befürchtete Chaos bleibt aus, die Gemeinde profitiert sogar von den Geflüchteten, da durch die Unterkunft Arbeitsplätze geschaffen werden. Berührungsängste habe es jetzt nicht mehr gegeben, erzählen die Verantwortlichen, im Gegenteil. „Bei der Infoveranstaltung wurde genau eine Frage gestellt und die lautete `Wie können wir helfen`“, erzählt Sebastian Hahn gerührt.
„Das war ja früher mal DDR hier, ganz früher war das ein Bruderstaat von uns“, sagt einer der Helfer. „Die Leute sind uns nicht fremd, die Sprache ist uns nicht fremd, ein bisschen russisch kann ich glaube ich auch noch.“
Die Anlage ist groß und steril. Kann man sich hier wohlfühlen? Im Eingangsbereich wurden Blümchen gepflanzt, in den Fenstern hängen Osterbasteleien. Draußen ist Sand aufgeschüttet worden, bald sollen hier Spielplätze entstehen.
Bislang sind etwa 50 Geflüchtete in Sumte angekommen, geplant ist, dass künftig drei Mal die Woche 18 weitere Personen in dem früheren Inkassobüro Unterschlupf finden. Ob sie dort auch hinwollen, dürfte fraglich sein. So malerisch die Landschaft auch ist - hier ist der Hund verfroren.

© Lea Schulze
Der Bus fährt alle zwei Stunden, und auch nur, wenn man ihm mindestens zwei Stunden im Voraus bestellt. Die nächste Schule ist fünf Kilometer entfernt, es gibt keinen Supermarkt, keine Tankstelle, nichts.
Deswegen sollen so schnell wie möglich eine Kita und eine kleine eigene Schule, ein Jobcenter, psychologische und ärztliche Betreuung auch in dem Gebäudekomplex untergebracht werden.
Die Einrichtung in Sumte auf rund 5000 Quadratmetern ist nur als Durchlaufstelle gedacht, bis die Menschen mithilfe der Kommunen eine Wohnung im Landkreis gefunden haben. Allein: Je länger der Krieg andauert und je mehr Menschen kommen, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Menschen länger mit der Übergangslösung vorliebnehmen müssen. Denn auch im Landkreis Lüneburg ist Wohnraum ein knapp bemessenes Gut.
„Man hat sie nicht gefragt“
Viele der geflüchteten Menschen aus der Ukraine wollen am liebsten in Berlin bleiben, doch dort fehlt es an Ressourcen. Bislang sei es schwierig, die Geflüchteten davon zu überzeugen, in die Busse zu steigen, die sie nach ganz Deutschland bringen, sagt Sascha Langenbach, Sprecher des Berliner Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten, unlängst in einem Interview.
Von den Geflüchteten 2015 ist niemand in Sumte geblieben. Könnte das dieses Mal anders werden? Eine Chance hätten die Geflüchteten in den kleineren Gemeinden, davon ist Hannes Schammann, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim, überzeugt.

© Lea Schulze
„Man kennt sich, die Wege sind kürzer, es gibt Multifunkionsträger, beispielsweise den Behördenvertreter, der gleichzeitig ehrenamtlich im Fußballverein engagiert ist, daraus ergeben sich Synergieeffekte.“
Gerade arbeitet sein Team zusammen mit vier Bundesländern an einer Software, in der sowohl Geflüchtete als auch Kommunen angeben können, was sie bieten können und was sie brauchen, der Algorithmus findet dann Matches. Noch sei sie zwar nicht fertig, doch nach dem Prinzip könne jetzt schon gearbeitet werden: Bedarfe abfragen, statt bloße Verteilung. Schammann wirbt bei Ehrenamtlichen und Kommunen für Verständnis, wenn Geflüchtete dieser Tage nicht aus den Bussen aussteigen wollen.

© Lea Schulze
„Man hat sie nicht gefragt. Wer migriert, hat Sehnsucht nach vermeintlich Bekanntem und will Unsicherheiten reduzieren. Deshalb lieber Berlin statt Goslar.“ Mit der Situation 2015 sei die jetzige Lage kaum zu vergleichen.
„Damals kamen hauptsächlich junge Männer, für die ging es hauptsächlich um Arbeit, alleine auf dem Land zu bleiben, daran bestand kein Interesse. Jetzt sind es viele Familien, da sehe ich eine deutlich höhere Bleibewahrscheinlichkeit auf dem Land, wenn man das jetzt vernünftig angeht.“
Noch geht es in Sumte vor allem um humanitäre Hilfe. Gerade die erste Versorgung könne das auf dem Land besonders gut funktionieren, meint Peter Mehl, stellvertretender Leiter des Instituts für Ländliche Räume.

© Lea Schulze
„Die Menschen dort haben gelernt, selbst anzupacken, davon kann man wunderbar profitieren und schlechtere Rahmenbedingungen wie zum Beispiel mangelnde Alltagsmobilität ausgleichen.“ Und auch das Dorf gehe gestärkt aus so einer Aktion hervor. „So etwas zu stemmen, das schweißt die Gemeinschaft zusammen.“
Die ist allerdings vorerst einfach platt: Jeden Morgen wache er auf und hoffe, dass dieser Albtraum endlich vorbei sei, sagt Pilch, als er an diesem schönen Frühlingstag draußen auf einer Bank sitzt und an seiner Zigarette zieht.
„Wir haben alle schon viel gesehen, waren im Ahrtal und bei schlimmsten Verkehrsunfällen. Aber wenn man sieht wie die Leute hier ankommen, ihr ganzes Hab und Gut in einem alten Kinderwagen und ein paar Plastiktüten, die schlimmen Fluchtgeschichten. Da mussten einige schon mal eine Auszeit nehmen und die Tränen laufen lassen.“
Auch ihn und seinen Kollegen Sebastian Hahn nehmen die Ereignisse mit. „Wir verändern uns, verhalten uns anders, müssen auf uns achtgeben“, sagt Hahn. Was helfe, seien Gespräche mit der Familie, mit dem Team, mit dem Hund spazieren gehen. Pilch hacke gerne mit seinem Sohn Holz, um runterzukommen.

© Lea Schulze
Er und Sebastian Hahn sind am Limit, 16-Stunden-Tage die Regel. Wie lange sie das noch durchhalten? So lange, wie es eben dauere. „Die Bauphase ist ja jetzt abgeschlossen, bald muss nur noch eine Leitung da sein, dann kommen wir wieder auf 40 Stunden runter.“
Ein bisschen Normalität wäre schon mal wieder schön. Eigentlich ist Holger Pilch Notfallsanitäter. „Seit einem Jahr bin ich nicht mehr gefahren. Im vergangenen März haben wir angefangen auf Corona zu testen. Und jetzt ist Krieg.“
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: