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Zahlreiche Besucher feierten am Brandenburger Tor bei einer großen Bühnenshow.

© AFP/Tobias Schwarz

Deutschland feiert den Mauerfall: Eine Verpflichtung für die Zukunft

Deutschland feiert den Mauerfall. Es erinnert an andere Ereignisse des geschichtsträchtigen Gedenktages. Eine Verpflichtung heute und in Zukunft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

So viel Anfang war nie – Rita Süssmuth war eine von denen, die den Mauerfall, die Wende, die Einheit, den Fall des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren in einer der vorderen Reihen begleitete. Und die Eindrücke, die sie am Samstag vor der Gedenkstätte in der Berliner Bernauer Straße vor allem polnischen und deutschen Journalistinnen und Journalisten mit dem Hölderlinzitat beschrieb, teilte sie damals mit vielen.

Der 9. November 1989, so sagte es später der Bundespräsident vor den Gästen aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen, schien eine neue und sichere Trennlinie zu ziehen, zwischen „einer Vergangenheit der Unterdrückung“ und einer lichten Zukunft. Die liberale Demokratie würde den Sieg davontragen und, so war’s gedacht, ihn nicht mehr hergeben.

Das hat sich, jedenfalls in diesem Überschwang, als Illusion erwiesen, wie wir wissen. So viel Nachdenklichkeit war nie an einem 9.-November-Jubiläum seit 1989. Während früher bestenfalls zu beklagen war, dass die blühenden Landschaften im deutschen Osten noch etwas kümmerlich ausfielen, dass alles länger dauern würde, hat inzwischen die liberale Demokratie in vielen Teilen Europas eher den Rück- als einen Siegeszug angetreten: in Polen, Heimat der Solidarnosc, in Ungarn, das als erstes Land die Grenzen öffnete, werden sie geschlossen, Kritik mundtot gemacht und die Gewaltenteilung ausgehebelt; Ungarns Orbán bekennt sich zu einer illiberalen Demokratie, in der von Demokratie gerade noch die Wahlen übrigbleiben.

Europa schrumpft, nach außen durch den bevorstehenden Auszug Britanniens, nach innen schon länger. Und auch in Deutschland haben es Feinde der offenen Gesellschaft, Anhänger autoritärer Konzepte bereits in die Parlamente geschafft.

Der 9. November ist ein ambivalenter Gedenktag. Ein Tag auf den zwei Jubel-Jubiläen fielen, nicht nur der Tag der Mauer, sondern auch der Geburtstag jener Weimarer Republik 1918, deren viele große Anfänge Deutschland dieses Jahr über gefeiert hat – vom Frauenwahlrecht übers Bauhaus bis zu den Anfängen einer modernen und demokratischen Bildung für alle. Aber der 9. November ist auch der Tag des Novemberpogroms, als der NS-Terror gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland eskalierte und unübersehbar wurde, der Auftakt zum Holocaust.

Es wird Zeit, die beiden Gedenken endlich zusammenzudenken

In diesem Jahr lassen sich Jubel und Schrecken dieses Datums weniger voneinander trennen als früher. Und das ist keine gute Nachricht. Exakt vor einem Monat, am 9. Oktober, wurde die Synagoge in Halle Ziel eines rechtsextremen antisemitischen Angriffs. Es hätte in der gutbesuchten Synagoge am hohen Feiertag Jom Kippur ein Massaker mit Opferzahlen geben können, die seit 1945 nicht mehr vorstellbar schienen, nicht in Deutschland.

Es wird Zeit, so ungeheuerlich das manchen scheint, die beiden Gedenken endlich zusammenzudenken. Die deutsche Einheit war ebenso unvermeidlich wie ein Glück in vieler Hinsicht. Nach dem Jubel am Brandenburger Tor folgten dann aber Hoyerswerda, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und die vielen teils tödlichen Attacken, deren Namen weniger bekannt sind. Es folgte die lange Mordserie des NSU, lange unentdeckt und bis heute politisch fast folgenlos. Das eine sollte einem wie das andere den Atem rauben. Und es folgte eine hysterische Asyldebatte, in der der Kanzler der Einheit Helmut Kohl ohne Not den Staatsnotstand beschwor.

Mit dem Mauerfall von 1989 vereinigte sich eine Nation, die glaubte, das Deutschsein nicht neu debattieren zu müssen. Die Realität auf beiden Seiten der früheren innerdeutschen Grenze war längst bunter. Einfarbig war sie ohnehin nur kurz nach 1945, als Krieg, Vertreibung und NS-Völkermord entsprechende Tatsachen geschaffen hatten.

Das musste zwangsläufig auf Kosten der Minderheiten gehen, die aus einem überkommenen Begriff von Nation herausfallen. Türken, Polen, Schwarze, Roma, inzwischen Syrer und ja, auch immer wieder die uralten Anderen, die Juden. Wer über Gewalt gegen sie nun erschreckt – wie es auch wieder nach Halle geschah –, hat ihnen nie zugehört.

Dafür wird es nach 30 Jahren allerhöchste Zeit. Der dominante Teil der Gesellschaft muss endlich das Wissen der Minderheiten als das des ganzen Landes begreifen und nutzen. Die ganz überwiegende Mehrheit der Deutschen, die nicht AfD wählen, sollten das eigentlich wollen. Und werden hoffentlich das Ringen darum, was Nation und Deutschsein heute ausmacht, gewinnen. Das nächste Jubiläum an einem 9. November könnten wir dann endlich entspannt feiern.

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