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Donald Trump und seine Frau Melania am 30. Oktober in Florida.

© AFP

Endspurt bei der US-Wahl: Man kann Amerika lieben - trotz Trump!

Trump hat viel Krach gemacht. Aber die amerikanische Demokratie lebt. Die Festungen der "checks and balances" hat er nicht schleifen können. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

An Amerika zu verzweifeln, ist leicht. Die Schusswaffen, der Rassismus, die Hybris, das Missionarische, die Todesstrafe: Wie kann eine Gesellschaft, die so etwas duldet oder fördert, so erfolgreich sein? Ein Drittel der Amerikaner glaubt, dass die globale Erderwärmung eine Erfindung von Wissenschaftlern, der Regierung und Journalisten ist.

Ein Viertel glaubt, dass Impfungen zu Autismus führen. Zwei Drittel sind überzeugt davon, dass es Engel und Dämonen gibt. Die Zahlen stammen von Kurt Andersen, dem Autor des Buches „Fantasyland: How America Went Haywire“ (Wie Amerika verrückt wurde).

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Die Tendenz, Amerikas Abstieg und Verfall zu prognostizieren, hat sich seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten noch verstärkt. Ein Lügner und Demagoge, Zocker und Polterer, Manipulator und Polarisierer war ins Amt gekommen.

Es war ihm gelungen, fast die Hälfte der Wähler auf seine Seite zu ziehen. Er zog über Frauen her und äußerte sich rassistisch. Eine wandelnde Blamage repräsentierte fortan das mächtigste Land der Welt.

Doch ist Trump Amerika?

In wenigen Tagen wird gewählt, und alle Unkenrufe über das Ende der amerikanischen Demokratie sollten eine Zeitlang verstummen. Denn sie lebt, diese Demokratie. Und wie! Frühwähler stellen sich in Scharen und Rekordzahlen an den Wahlkabinen an, manchmal im Regen und für Stunden. Sie findet statt, diese Wahl, trotz Corona, trotz Trump, trotz Gerichtsprozessen und mit all jenen Unzulänglichkeiten, die Amerikas Wahlrecht mit sich bringt.

 Kein Vergleich mit der Weimarer Republik

Amerikas Demokratie lebt. Es klingt seltsam, das betonen zu müssen, aber weil oft der gegenteilige Eindruck zu erwecken versucht wird, kommt die Bilanz nach vier Jahren Trump an diesen einfachen Sätzen nicht vorbei: Die Gewaltenteilung wurde nicht angetastet, eine unabhängige Presse existiert nach wie vor, der Präsident hat sich nie über Gerichtsurteile hinweggesetzt.

Gegen ihn wurde ein Amtsenthebungsverfahren in die Wege geleitet. Alles nach demokratischer Regel und parlamentarischer Gepflogenheit. Vergleiche mit der Weimarer Republik, dem Spanien der 30er Jahre oder dem vorrevolutionären Russland verbieten sich.

Trumps Kritiker werfen ihm seine harschen Worte vor, seine Skrupellosigkeit, seine Invektiven gegen einen vermeintlichen „tiefen Staat“, seine Missachtung von Institutionen, seine Angriffe auf das Wahlrecht. Aber das meiste davon war „only talk, no action“.

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Die Festung der „checks and balances“ konnte er nicht schleifen. Die drei Machtzentren des politischen Systems – Präsident, Kongress, Oberstes Gericht – kontrollieren sich weiter gegenseitig. Trump machte krach wie ein Hamster des Nachts im Laufrad – und war ähnlich effektiv damit, nämlich gar nicht.

Amerika war stets mehr als Trump. Die in der Unabhängigkeitserklärung garantierte Urgewissheit, frei geboren zu sein, unveräußerliche Rechte zu besitzen – auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück – blieb intakt.

Völlig unberührt von dem radikalen Aktivisten im Weißen Haus vergrößerten Tüftler und Unternehmer, Visionäre und Hasardeure die globale Vorherrschaft der USA auf fast allen Gebieten – bei Militär, Wirtschaft, digitaler Industrie. Ob Tesla, SpaceX oder Künstliche Intelligenz, ob Facebook, Google oder Amazon: Aus fixen Ideen waren lukrative Geschäftszweige geworden, die unter Trump munter weiter expandierten.

Gesellschaftliche Grundkonflikte brachen auf

Denn ein weiterer Pfeiler des amerikanischen Systems ist die starke Stellung der 50 Bundesstaaten. Im Silicon Valley in Kalifornien muss sich niemand um Trumps erratische Twittereien scheren. Washington D.C ist weit weg, und die Kompetenzen auf regionaler Ebene sind groß.

Ob Sterbehilfe oder Ehe für alle, die Legalisierung von Haschisch oder die Altersgrenze beim Alkoholkonsum: Das wird vor Ort entschieden. Amerikas Bundesstaaten sind viel souveräner – und unabhängiger - als Deutschlands Bundesländer.

Was in der Tat aufbrach unter Trump, sind gesellschaftliche Grundkonflikte, die lange Zeit ungelöst vor sich hin gewabert hatten. Es geht um Kontrolle, Stolz und Tradition. Sollen Denkmäler eingerissen, Erinnerungen getilgt werden? Wie viele Dissonanzen lassen sich bei einem ehrenden Gedenken ertragen, das Identität stiften soll?

Woodrow Wilson, der Rassist, rief die erste Weltfriedensorganisation ins Leben; Abraham Lincoln, der einen Bürgerkrieg mit mehr toten Amerikanern verantwortete, als im Zweiten Weltkrieg starben, beendete die Sklaverei; Thomas Jefferson, der Sklavenbesitzer, mitbegründete die Demokratie; Theodore Roosevelt, der Imperialist, bekämpfte die Auswüchse des Kapitalismus.

Die Vergangenheit wird entwertet. Weiße verlieren ihren Status als Mehrheit. Kulturell liberale Werte dominieren. Sprache wird per Dekret verändert. Eine „globalisierte Klasse“ verwischt die Grenzen des Nationalen.

Wer ein Teil dieser Umbrüche ist, sie gar befördert, versteht oft nicht, woher der Widerstand kommt. Trump hat diesem Widerstand Begriffe gegeben. Er hat gespürt, was Menschen eine angebliche „Elite“ verachten lässt, ein „Establishment“. Weil Amerika mehr ist als Trump, werden diese Grundkonflikte dessen Präsidentschaft überdauern. Wäre es besser gewesen, sie wären nie aufgebrochen?

Warum soll sich ein Starker von zehn Schwachen einbinden lassen?

Amerikaner sind freiheitsliebend, optimistisch und pragmatisch. Das sind ihre elementaren Eigenschaften. Ihre Freiheitsliebe lässt sie übergeordnete Institutionen und jede Art von Bevormundung als suspekt empfinden. Ihre Aversionen richten sich sowohl gegen eine Zentralregierung als auch gegen internationale Verträge.

Sie fühlen sich im Rahmen der Weltgemeinschaft wie ein Fuchs, der von zehn Gänsen aufgefordert wird, sich auf einen gemeinsamen Essensplan zu einigen. Warum soll sich ein Starker von zehn Schwachen einbinden lassen?

Amerika ist mehr als Trump. Der Umgang des Landes mit seinem missratenen Präsidenten erinnert an die Erzählung „Das Gespenst von Canterville“ des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Im Schloss Canterville, in das eine amerikanische Familie einzieht, lebt das Gespenst Trump.

Es will Angst und Schrecken verbreiten, hinterlässt Blutflecken auf dem Fußboden, rasselt mit seinen Ketten. Doch die Familie bleibt ruhig. Der Vater fordert das Gespenst auf, seine Ketten einzufetten, die Kinder lassen es auf Butterfallen ausrutschen.

An Amerika zu verzweifeln, ist leicht. Sollte Trump in wenigen Tagen wiedergewählt werden, droht diese Versuchung unwiderstehlich zu werden. Falls nicht, hat das Land einen Sieg über sich selbst errungen.

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