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Die türkische Polizei bezieht Stellung vor der ägyptischen Botschaft in Ankara. Unterstützer Präsident Mursis demonstrierten hier am 5. Juli gegen dessen Absetzung.

© AFP

Proteste in der Türkei: Erdogan fürchtet das Militär

Erdogan hat das Militär der Türkei fast entmachtet – und scheint doch nach dem Putsch am Nil besorgt. Angesichts der Ereignisse in Ägypten kehrt er verfrüht aus dem Urlaub zurück und plant eine Reform des Streitkräftegesetzes.

Die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär alarmiert auch den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan. Droht ihm ein ähnliches Schicksal? Keine ganz abwegige Frage, vor dem Hintergrund der massiven Anti-Regierungsproteste, die in den vergangenen Wochen die Türkei überrollten. Tahrir, Taksim: Die Bilder ähneln sich. Umso mehr beeilt sich Erdogan nun, die Armee an die Kandare zu nehmen.

Der Putsch in Ägypten war für Erdogan zumindest Anlass, seinen Urlaub in Urla an der türkischen Ägäisküste am Donnerstag zu unterbrechen und zu einer Krisensitzung nach Istanbul zu fliegen. An dem dreistündigen Treffen nahmen unter anderem Vizepremier Bülent Arinc, Außenminister Ahmet Davutoglu und der Chef des türkischen Geheimdienstes, Hakan Fidan, teil. Immerhin haben die türkischen Militärs seit 1960 bereits vier Mal demokratisch gewählte Regierungen entmachtet. Zuletzt drängten sie 1997 den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan aus dem Amt, Erdogans politischen Mentor.

Die Geschichte des Militärputsches in der Türkei ist lang

Jetzt will Erdogan mit einer Änderung des Militärgesetzes verhindern, dass ihm so etwas widerfährt. Artikel 35 des türkischen Militärgesetzes verpflichtet die Streitkräfte nicht nur zur Verteidigung des Landes gegen Bedrohungen von außen, sondern bestimmt sie auch zu Hütern der Republik und der Verfassung. Unter Berufung auf diese Wächterrolle übernahmen die türkischen Militärs 1960, 1971 und 1980 die Macht. 1997 drängten sie Erbakan wegen islamistischer Umtriebe aus dem Amt, nachdem er sich einem Ultimatum der Generäle widersetzt hatte. Die Entmachtung Erbakans, für die nicht einmal Panzer rollen mussten, ging als „postmoderner Coup“ in die Geschichte der Republik ein.

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Seit dem ersten Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) hat Erdogan die Macht der Militärs immer weiter beschnitten. Er berief sich dabei auch auf die Reformforderungen der Europäischen Union, die den dominierenden Einfluss der Armee wiederholt kritisierte. Der von den Generälen dominierte Nationale Sicherheitsrat (MGK), in den 1990er Jahren die eigentliche Entscheidungsinstanz des Landes, ist heute ein fast bedeutungsloses Gremium. 2007 versuchten die Generäle, die Wahl von Erdogans Weggenossen Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Sie scheiterten damit ebenso wie mit dem Versuch, die AKP vom Verfassungsgericht verbieten zu lassen. Danach spürte Erdogan Rückenwind. Wegen angeblicher Putschpläne wurden in den vergangenen Jahren Hunderte aktive und pensionierte Offiziere festgenommen und angeklagt, unter ihnen 72 Ex-Generäle. Im Sommer 2011 entschied Erdogan auch eine Kraftprobe wegen Beförderungen ranghoher Offiziere für sich. Die Führung der Streitkräfte trat daraufhin geschlossen zurück. Beobachter sahen darin die Kapitulation des Militärs.

Die Armee als kemalistischer Retter

Auch jetzt ist der Generalstab auf Tauchstation. Aber man kann nie wissen. Während der Proteste sollen Soldaten in Zivil Gasmasken an die Demonstranten verteilt haben. Bei der Entmachtung der Streitkräfte kann sich Erdogan zwar der Zustimmung einer großen Mehrheit der Bevölkerung sicher sein. Viele Kemalisten, die in der Tradition des Staatsgründers (und Generals) Mustafa Kemal Atatürk stehen, sehen im Militär aber immer noch den Retter, wenn es um die Verteidigung der weltlichen Staatsordnung geht. Tatsächlich hätten die Generäle noch vor einigen Jahren in einer Situation wie der gegenwärtigen unter Berufung auf die befürchtete Islamisierung von Staat und Gesellschaft wohl längst die Macht an sich gerissen. Dem will Erdogan einen Riegel vorschieben. Sobald das Parlament im Oktober aus der Sommerpause kommt, soll es die Änderung des Artikels 35 des Streitkräftegesetzes beschließen. Nach der Neufassung soll das Militär nur noch für die Abwehr von „Gefahren aus dem Ausland“ und die „Sicherung des internationalen Friedens“ zuständig sein.

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