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Politik: Es kommt der Tag, da ihre Herrschaft bricht

Der Tag der Befreiung war der letzte Tag in seinem Leben. Eine Enkelin über einen Großvater, den sie nie kennen lernen konnte

Von Caroline Fetscher

„Er starb auch für deine Freiheit“ schrieb eine DDR-Zeitung zum 40. Todestag von Rainer Fetscher. Der Arzt und Antinazi war am 8. Mai 1945 auf der Prager Straße in Dresden von einem SS-Heckenschützen erschossen wurde. Meine Großmutter, Kläre Fetscher, hat mir von diesem Tag erzählt. Sie vergaß nie, wie sie ihren Mann noch an der Haustür zurückzuhalten versuchte, als der mit einer weißen Fahne den sowjetischen Besatzern entgegengehen wollte. Er wollte signalisieren, dass es Bürger gibt, die das Ende der Hitlerzeit begrüßen, und die Stadt Dresden, die seit dem Bombardement vom13. Februar großenteils in Trümmern lag, vor noch mehr Zerstörung bewahren. Später habe ich meine etwas schrullige, sehr moralische und oft sehr humorvolle Großmutter an jedem 8. Mai in Tübingen angerufen, wo sie bis zu ihrem Tod 1987 lebte. In Dresden heißt eine Straße nach dem Großvater, und ein Platz, denn in der DDR zählte Rainer Fetscher, geboren 1895 in Wien, offiziell zu den „Ärzten an der Seite der Arbeiterklasse“. So hätte er sich selbst wohl nicht gesehen. Er empfand sich als bürgerlicher Demokrat. „Der Weg zur Kenntnis des Menschen geht über die Liebe zum Menschen. Auch Wissenschaft kann eines warmen Herzens nicht entbehren, zum wenigsten dann, wenn sie Theorie und Praxis verbinden will“, formulierte Rainer Fetscher sein Leitmotiv.

Liebe hatte er als Kind kaum erfahren. Als er noch keine zehn Jahre alt war, verbannte sein eifersüchtiger Vater die Mutter Marianne aus der Wiener Wohnung. Sie soll, munkelten Nachbarn, einmal fremdgegangen sein. Allein mit Vater und Haushälterin wuchs Rainer Fetscher auf, die vier Schwestern schickte der Vater, der in einem Handstreich gleich Rache an allen Frauen des Hauses nahm, auf eine Klosterschule in Schwaben. Keins der Kinder, beschied er, solle die Mutter je wiedersehen. Diesem Klima zum Trotz entwickelte der Sohn Rainer einen eigenen Humanismus.

Kann man jemanden vermissen, den man nie kannte? Eigentlich nicht. Trotzdem hat dieser Großvater immer gefehlt. Seine Wärme und Menschenkenntnis hätten gut getan. Lücken wie diese klaffen in vielen Nachkriegsfamilien. Nachkommen jüdischer Europäer wissen in ihren Familien mehr Ermordete als Überlebende. Es ist ein glückliches Privileg, Briefe, Fotos und Gedichte des Großvaters zu kennen, Geschichten, die erzählt wurden, und die Passagen, in denen Victor Klemperers Tagebuch den Arzt als einen „Judenfreund“ erwähnt, dem die Gestapo die Behandlung jüdischer Patienten untersagte. Offenbar bot Rainer Fetscher, so schrieb Klemperer, ihm an, dessen Manuskripte bei sich zu verstecken.

In den Dresdner Praxisräumen des Großvaters trafen sich, hinter heruntergelassenen Jalousien, liberale Regimegegner. Sie tauschten Informationen aus, lauschten heimlich der BBC und gaben einander Nachrichten über Lagerhäftlinge weiter. Seiner Frau erzählte Rainer Fetscher davon so wenig wie möglich, aus Angst, sie könne verhaftet und zum Verrat gebracht werden. Am 26. August 1943 notiert Klemperer, Fetscher erzählte „als neuesten Witz: Wer zehn neue Leute für die Partei wirbt, darf aus der Partei austreten; wer ihr zwanzig neue Leute zuführt, erhält eine Bescheinigung, dass er ihr nie angehört hat“.

Das war auch Selbstironie, denn mein Großvater hatte der Partei einmal angehört. So gradlinig, wie die DDR sie sehen wollte, ist seine Geschichte nicht. Habilitiert in einem damaligen Modefach, der Erbbiologie, arbeitete er Anfang der zwanziger Jahre am Dresdner Hygiene-Institut und unterrichtete von 1928 an erst an der Technischen Hochschule Dresden, dann an der Technischen Universität, wo er Vorlesungen über Hygiene und Anthropologie hielt. Anfangs sympathisierte er mit dem Nationalsozialismus und war eine Zeit lang SA-Mitglied. Bald sah er dann mit offenen Augen, was wirklich geschah. „Ich gestehe, in vielen Dingen geirrt zu haben“, schrieb er in seinem Bekenntnis mit der Überschrift „Confiteor“. Am 26. Februar 1934 zwang das Regime den kaum Vierzigjährigen auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand, am 12. Oktober 1936 entzogen ihm die Nationalsozialisten die Lehrerlaubnis; Aussagen wie „alle Ehen sind Mischehen“ hatten Anstoß erregt. Also eröffnete der Arzt eine Privatpraxis.

Seine Sehnsucht nach dem Kriegsende war so stark, dass er Silvester 1944 ein Gedicht darüber schrieb: „Wir wissen es: der längsten Nacht folgt Licht. / Folgt Licht: die Schatten mögen steigen; / Es kommt der Tag, da ihre Herrschaft bricht.“

Der Tag kam. Heute jährt er sich zum 60. Mal.

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