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Demonstranten gehen wegen des Todes eines 16-Jährigen während eines Polizeieinsatzes in Dortmund auf die Straße.

© Roberto Pfeil/dpa

Wie kam es zu tödlichen Polizeieinsätzen?: „Es wird so lange geschossen, bis die gewünschte Wirkung erzielt ist“

Die Polizei muss sich nach den drei tödlichen Einsätzen innerhalb einer Woche rechtfertigen. Gewerkschaftschef Wendt sieht ein grundsätzliches Problem.

Frankfurt, Köln, Dortmund: Innerhalb einer Woche sind in Deutschland drei Menschen bei Polizeieinsätzen nach Messerangriffen getötet worden. Die Häufung wirft eine Reihe von Fragen auf. Wir haben die wichtigsten beantwortet.

Warum traten die Fälle nun gehäuft auf?

Aus Sicht der Deutschen Polizeigewerkschaft ist die Kumulation der drei Fälle „Zufall“ – allerdings lasse sich ein grundsätzliches Problem erkennen, sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt dem Tagesspiegel. „Es gab in der Vergangenheit eine hohe Fallzahl an Messerangriffen, allein 20.000 im vergangenen Jahr. Das liegt auch daran, dass Messer leichter als andere Waffen verfügbar sind.“ Allein in Berlin starben 2021 bei fast 2800 Messerangriffen 33 Menschen.

Anwohner, Demonstranten und Aktivisten in Dortmund sowie anderen Städten warfen der Polizei nach den gehäuften Todesfällen Rassismus und Polizeigewalt vor. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hingegen schließt ein strukturelles Polizeiproblem aus.

Reul macht wie Wendt darauf aufmerksam, dass die Häufung damit zusammenhängen könnte, dass es eine hohe Anzahl an Angriffen gäbe, bei denen Messer im Spiel seien. „Und Fachleute wissen, dass Messer das Gefährlichste von allem sind“, sagte Reul im Deutschlandfunk am Freitag. „Das ist nicht irgendein Gegenstand, sondern mittlerweile ein lebensbedrohliches Instrument. Bedauerlicherweise schleppen das viele Leute fast täglich mit sich rum jetzt.“

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Auch unabhängig von Messerangriffen bewegt sich die Zahl der Angriffe auf Beamte auf hohem Niveau. „Allein im letzten Jahr gab es über 40.000 Attacken gegen Einsatzkräfte der Polizei“, hatte Wendt bereits der „Welt“ gesagt. „Was sich nicht häuft, sind die Schüsse von Polizeibeamten auf Personen – die sind gleichbleibend auf niedrigem Niveau.“

Im vergangenen Jahr habe es in Nordrhein-Westfalen 30 Schüsse von Polizisten auf Zivilisten gegeben, drei seien dabei zu Tode gekommen, so Wendt. „Das ist aber angesichts von insgesamt 2000 Schüssen, die die Polizei in NRW abgegeben hat, ein winziger Bruchteil. Die Masse des Schusswaffengebrauchs richtet sich gegen Sachen.“

Welche Regeln gibt es für den Schusswaffengebrauch?

Im Polizeigesetz steht: „Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren.“

Die Eskalationskette zur Abwehr von Angriffen beginnt bei einfacher körperlicher Gewalt. Erst danach kämen Pfefferspray und Taser zum Einsatz, sagte Wendt dem Tagesspiegel. „Die eingesetzten Mittel müssen verhältnismäßig sein.“ Je nach Gefahrensituation könnten die Polizisten allerdings auch mehrere Schritte der Kette überspringen und sofort schießen.

Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft
Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft

© Ingo Wagner/dpa

In einer Gefahrensituation feuern die Polizisten sogenannte „Deutschüsse“ auf die größte Projektionsfläche ab, beim Menschen ist das der Rumpf. Denn es sei sehr schwierig, jemanden in der Bewegung beispielsweise im Bein zu treffen. „Es wird so lange geschossen, bis die gewünschte Wirkung erzielt ist“, sagte Wendt.

Von „Notwehr“ könnte bei den Polizeieinsätzen keine Rede sein, sondern von „Gefahrenabwehr“, sagte Wendt. In Frankfurt, Köln und Dortmund hätten die Beamten demnach geschossen, um sich und andere nicht in Gefahr zu bringen.

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Kritiker der Einsätze bezweifeln, dass das Abfeuern der Schusswaffen wirklich nötig war. „Warum wurde dort eine Maschinenpistole eingesetzt? Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar“, sagte der Bochumer Kriminologe Thomas Feltes. Eine solche Waffe sei aus seiner Sicht für Amoklagen gedacht, nicht für Einsätze gegen psychisch auffällige Jugendliche.

Die Debatte, ob der Einsatz der Maschinenpistole in Dortmund verhältnismäßig gewesen sei, versteht Wendt nicht. „Es spielt im Einsatz keine Rolle, ob eine Pistole oder eine Maschinenpistole eingesetzt wird. Beide sind zulässige Waffen, schon seit Jahrzehnten.“ NRW-Innenminister Reul geht sogar noch einen Schritt weiter: „Die Maschinenpistole ist keine Lösung, sondern die letzte Rettung für den Polizisten, der angegriffenen wurde.“

Wie sieht es in den einzelnen Fällen aus?

In Frankfurt hatte das Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei einen 23-jährigen Obdachlosen per Kopfschuss getötet. Zuvor hatte dieser zwei Prostituierte in einem Hotel zum Drogenkonsum zwingen wollen. Er bedrohte sie offenbar mit einem Messer, die Frauen konnten fliehen.

Beim anschließenden Polizeieinsatz verletzte der polizeibekannte Mann einen Polizeihund schwer mit einem Messer. Da er eine Schusswaffe mit sich führte, zielte der SEK-Beamte direkt auf den Kopf. Da das erste eingesetzte Mittel Polizeigewerkschaftschef Wendt zufolge immer das „mildeste“ sein müsse, hätten die Polizisten die Situation offenbar als sehr gefährlich eingestuft.

In Köln hatte eine Gerichtsvollzieherin zur Zwangsräumung bei einem polizeibekannten 48-Jährigen Polizisten zur Verstärkung dabei, da der Mann bereits zuvor Gewalt angedroht haben soll. Als dieser vor Ort dann die Polizisten mit einem Messer angriff, sollen die Beamten Pfefferspray eingesetzt sowie den Schusswaffengebrauch angekündigt haben. Beides soll keine Wirkung erzielt haben, sodass ein Polizist auf den Mann schoss. Er starb noch in seiner Wohnung.

In Dortmund hätten Betreuer eines 16-Jährigen die Polizei gerufen, weil er sich habe umbringen wollen, schilderte NRW-Innenminister Reul am Donnerstag. Zunächst hätten Zivilpolizisten versucht, den Jugendlichen zu beruhigen. Weil das nicht wirkte, hätten sie Pfefferspray eingesetzt. Erst anschließend setzten die Polizisten den Taser ein. Insgesamt sollen elf Polizisten vor Ort gewesen sein.

Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalens
Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalens

© Thomas Banneyer/dpa

Dass ihn selbst der Taser nicht stoppen können, habe daran gelegen, dass der Polizist den Jugendlichen nur mit einem Pfeil traf. „Und es sind zwei Pfeile notwendig, um den Stromkreis zu schließen“, erklärte Wendt. Anschließend sei der Jugendliche auf den Polizisten zugerannt. Von sechs Schüssen aus einer Maschinenpistole trafen ihn fünf.

Was passiert jetzt?

Aus Neutralitätsgründen ermitteln in Dortmund und Köln jeweils benachbarte Polizeidienststellen. Im Dortmunder Fall die Polizei Recklinghausen und im Kölner Fall die Polizei Bonn. Im Frankfurter Fall hat das hessische Landeskriminalamt die Ermittlungen aufgenommen.

Es wird jeweils gegen die Polizisten, die die tödlichen Schüsse abgaben, ermittelt. Die Beamten würden als Verdächtige behandelt – genau wie jeder andere Bürger in einem solchen Fall, sagte NRW-Innenminister Reul für die Fälle in Köln und Dortmund. Für gewöhnlich würden die Polizisten für die Zeit der Ermittlungen vom Dienst freigestellt, sagte Wendt dem Tagesspiegel.

Um solche Straftaten künftig vermeiden zu können, müssten psychisch kranke Menschen, die gefährdet seien, solche Straftaten zu begehen, frühzeitig identifiziert werden, sagte Reul im Deutschlandfunk. Dazu müsse ein Informationsaustausch zwischen Polizei und denen Menschen stattfinden, die sich um die psychisch Kranken bemühen.

Die Grünen fordern als Konsequenz die Einsetzung eines Polizeibeauftragten im Bund noch in diesem Jahr. „Unabhängige Polizeibeauftragte schaffen Transparenz und stärken das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei“, sagte der Grünen-Obmann im Innenausschuss des Bundestags, Marcel Emmerich, dem „Spiegel“.

Aus Sicht der Polizeigewerkschaft könnte eine kurzfristige Folge der drei Polizeieinsätze sein, dass es demnächst flächendeckend Taser in Streifenwagen gebe, sagte Gewerkschaftschef Wendt. Es gebe Erhebungen, dass Angriffe in 70 Prozent der Fälle unterbleiben, wenn der Einsatz eines Tasers angedroht wird. Für ihn sei klar: „Wir wollen uns daran natürlich nicht gewöhnen.“

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