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© Illustration: Manuel Kostrzynski / Der Tagesspiegel

Fehlende Langzeitstrategie: Riskante Corona-Wette zulasten der Kinder

Infektionsschutz, Bildung und psychosoziale Risiken werden derzeit gegeneinander ausgespielt. Das ist falsch und zudem zu kurzfristig gedacht. Ein Gastbeitrag.

Die Sars-Cov-2 Infektionszahlen bei Kindern haben in den vergangenen Wochen Rekordwerte der gesamten bisherigen Pandemie erreicht. Der Betrieb von Schulen und Kindergärten wurde vielerorts durch ausgedünnte Klassen und Gruppen, Vertretungsunterricht, hohen Krankenstand bei Lehrer:innen und Betreuer:innen und hohes Infektionsgeschehen aus den Einrichtungen hinein in die Familien geprägt.

In einer Kakophonie vieler Akteure werden zurzeit Infektionsschutz, Präsenzunterricht, psychosoziale Risiken, physische Gesundheitsrisiken und Schulschließungen gegeneinander in den Kampf geschickt. Das Recht auf Bildung sowie psychische und physische Gesundheit sind jedoch keine konträr ausgerichteten oder sich einander ausschließenden Ziele, sondern sich gegenseitig bedingende Grundvoraussetzungen für die gesunde Entwicklung von Kindern.

[Prof. Isabella Eckerle ist Virologin und leitet das Zentrum für Neuartige Viruserkrankungen, eine gemeinsame Einrichtung der Universitätskliniken Genf und der Universität Genf. Sie ist zum Thema Corona auch auf Twitter aktiv.]

In der aktuellen Diskussion um zeitnahe Lockerungen von Infektionsschutzmaßnahmen fehlt der Wille zu einer Langzeitstrategie. Warum es diese jedoch dringend braucht und in welchem Dilemma man sich aktuell befindet, möchte ich im Folgenden darstellen.

Der Benefit der Covid-19-Impfung war noch nie so deutlich sichtbar wie durch die aktuelle Entkopplung von Infektionszahlen und Belastung des Gesundheitssystems. Studien aus den USA belegen, dass die Impfung gegen Sars-Cov-2 einen Nutzen in allen Altersgruppen hat, für die eine zugelassene Impfung vorliegt. Der Schutz vor schwerer Erkrankung, Folgekomplikationen (bei Kindern etwa das Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome, Pims) und Tod überwiegt die geringen Nebenwirkungen der Impfung.

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In Deutschland sind dennoch mehr als achtzig Prozent der Kinder unter zwölf Jahren und praktisch alle Kinder unter fünf Jahren noch nicht geimpft, so dass die Viruszirkulation in diesen Altersgruppen in einer weitgehend noch immun-naiven Population stattfindet. Wissenschaftliche Daten zeigen, dass eine isolierte Omikron-Infektion nur zu einer geringen Antikörperantwort führt und wahrscheinlich nur kurzzeitigen Schutz vor Reinfektion bietet. Noch geringer wäre dieser Schutz, wenn eine neue Variante auftritt oder Delta anhaltend zirkuliert. Dies legt nahe, dass eine isolierte Omikron-Infektion kein ausreichender Ersatz für die Impfung ist, und es wahrscheinlich trotzdem eine spätere Ergänzung durch die Impfung benötigt.

Noch zwei bis zehn Jahre bis zu einer stabilen Situation

Die Expertengruppe „Sage“, die die britische Regierung berät, hat in ihrem jüngsten Report vier Szenarien vorgestellt, wie eine mittelfristige Zukunft mit Sars-Cov-2 aussehen könnte. Sie nennt ein optimistisches und ein pessimistisches Szenario, sowie zwei dazwischenliegende. In jedem Fall geht man davon aus, dass Sars-Cov-2 weiterhin zirkulieren wird und neue Varianten auftreten. Betont wird, dass die Situation hochdynamisch bleibt: Man rechnet mit zwei bis zehn Jahren, bis sich ein stabiles Muster einstellen könnte. Auch in der Zukunft werden also Unwägbarkeiten und die Unvorhersehbarkeit von Sars-Cov-2 die Altersgruppe der Kinder, und damit Schulen und Betreuungseinrichtungen, nicht aussparen.

Längst Routine: ein Kind beim Corona-Schnelltest.
Längst Routine: ein Kind beim Corona-Schnelltest.

© dpa

In der aktuellen Situation infiziert sich gerade ein großer Teil der Kinder, was mit nicht unerheblichen Risiken einhergeht, aber wahrscheinlich trotzdem nur einen unzureichenden Immunschutz für den kommenden Herbst darstellt. Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern eine nur schwache Impfempfehlung für Kinder unter zwölf Jahren.

Die Skepsis bei Eltern und auch teilweise Kinderärzten ist groß, auch bedingt durch ambivalente Kommunikation zur Krankheitslast und Nutzen der Impfung in der Vergangenheit. Zwar geringe, aber doch reale Erkrankungsrisiken von Kindern (Pims zum Beispiel 1:2000 bis 1:4000) sowie Sorgen von Eltern werden häufig negiert. Gleichzeitig haben die vergangenen Wochen gezeigt, dass Schulen auch nach zwei Jahren Pandemie nicht darauf vorbereitet sind, in einer Infektionswelle funktionsfähig zu bleiben.

Es ist zu betonen, dass es beim Infektionsschutz nicht um die Schließung von Betreuungseinrichtungen geht, sondern um einen funktionellen Betrieb bei reduziertem Ansteckungsrisiko. Die Konsequenz der hohen Infektionszahlen sind die steigende Anzahl an Infektionskomplikationen, darunter ein Anstieg an hospitalisierten, an Covid-19 erkrankten Kindern sowie Folgekomplikationen wie Pims.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus / Neue Corona-Strategie zum Berliner Ferienende: Kitas beklagen "Scheinsicherheit" per Lolli-Test]

Gleichzeitig sind Einbußen am Bildungsauftrag in der aktuellen Situation offensichtlich. Zehntausende Schüler:innen, die in Isolation oder Quarantäne sind, haben keine alternative Möglichkeit, am Unterricht teilzunehmen, da auch im dritten Jahr der Pandemie noch keine ausreichenden digitalen Unterrichtsstrukturen aufgebaut wurden. Ebensowenig haben sie bis heute in dieser Situation Zugang zu psychischen Unterstützungsangeboten.

Immer noch ein erst relativ kurz bekanntes Virus

Auch wenn das individuelle Risiko von Omikron im Vergleich zu Delta auch für Kinder geringer ist, hat Sars-Cov-2 immer noch eine Krankheitslast, die in der Größenordnung anderer, impfpräventabler Kinderkrankheiten liegt. Gerade weil viele Aspekte von Covid-19 noch nicht verstanden sind, sollte man weiterhin das Vorsorgeprinzip gelten lassen.

Machen wir uns nichts vor: Sars-Cov-2 ist immer noch ein erst relativ kurz bekanntes Virus und noch weit davon entfernt, sich bei den harmlosen Erkältungsviren einzuordnen. Das Krankheitsbild Long-Covid ist noch nicht ausreichend erforscht, kann aber gerade deswegen nicht einfach ignoriert werden. Noch unbekannte Langzeitfolgen sind noch nicht auszuschließen.

Virologie-Professorin Isabella Eckerle.
Virologie-Professorin Isabella Eckerle.

© Reuters

Berichte über eine Zunahme an Diabetes mellitus Typ I als eine mögliche postinfektiöse Komplikation von Sars-Cov-2 stehen wissenschaftlich noch auf wackeligen Beinen, sind aber nur ein Beispiel für die Möglichkeit, dass auch milde Akutinfektionen Komplikationen triggern könnten. Die aktuelle Situation ist deshalb eine riskante Wette zulasten der Kinder, die darüber hinaus auch keine nachhaltige Strategie für die Zukunft darstellt.

Aktuell wird argumentiert, dass die Maßnahmen wie Masken und regelmäßiges Testen für Kinder eine nicht zumutbare Belastung darstellen und Ängste fördern, mehr als die Bedrohung durch das Virus selbst. Das Tragen von Masken und das regelmäßige Testen sind zwar lästig, sind aber nun mal adäquate Maßnahmen, die der globalen Zirkulation eines neuen Krankheitserregers geschuldet sind. Auch Kinder haben ein Recht, davor geschützt zu werden.

Wo sind nun die Investitionen in Schulpsychologen, Präventions- und Unterstützungsangebote?

Der Nutzen von Masken mit Blick auf Weitergabe und Ansteckung ist eindeutig, und Modellierungen zufolge bei Omikron noch höher als bei Delta. Es gibt bis heute keine wissenschaftlich belastbaren Daten, die zeigen würden, dass die Masken und Testungen eine psychische Belastung für Kindern darstellen.

Darüber hinaus wirken sich eine Reihe von Infektionsschutzmaßnahmen ausschließlich positiv aus, besonders in einer Pandemie, aber auch darüber hinaus. Kleinere Klassen wären eine enorme Investition in Bildung und Förderung von lernschwächeren Kindern. Vermehrte Unterrichtseinheiten im Freien, wie beispielsweise in skandinavischen Ländern schon lange üblich, fördern mentale und körperliche Gesundheit.

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Luftfilter und CO2-Messgeräte in jedem Raum, in dem Kinder betreut werden, reduzieren nicht nur die Anzahl an Krankheitserregern in der Luft wie Sars-Cov-2, Grippeviren oder andere Erkältungsviren, sondern sie fördern auch das Wohlbefinden und die Konzentrationsfähigkeit.

Betreuungseinrichtungen sind Schutzorte für Kinder und Anlaufstellen bei häuslichen und psychischen Problemen: Wo sind nun die Investitionen in Schulpsychologen, in integrierte Anlaufstellen, Präventions- und Unterstützungsangebote sowohl für gesunde als auch für psychisch belastete Kinder und Jugendliche, nachdem die essentielle Rolle von Schulen und Kindergärten so überdeutlich bewiesen wurde?

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Relativ große Einigkeit herrscht über alle Lager hinweg, dass Betreuungseinrichtungen eine zentrale Rolle im Leben von Kindern spielen. Zwei Sommerferien sind nun seit Anbeginn der Pandemie vergangen, ein weiterer Sommer mit wahrscheinlich niedrigen Infektionszahlen und viel Freiheiten steht bevor, dem aber wieder ein Winterhalbjahr folgen wird.

Die Verantwortung und Wertschätzung Kindern und Familien gegenüber erfordert es nun, besser vorbereitet in den nächsten Winter zu gehen. Es wäre unverzeihlich, wenn sich die aktuelle Situation wiederholen würde.

Isabella Eckerle

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