zum Hauptinhalt
Nicht willkommen: Asylbewerber vor einem Flüchtlingsheim im sächsischen Freital, wo es wochenlang Proteste gegen die Unterkunft gab.

© Peter Endig/ dpa

Flüchtlinge in Deutschland: „Es ist Zeit für einen neuen Aufbau Ost“

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann schlägt vor, mehr Flüchtlinge in östlichen Bundesländern unterzubringen. Nicht bei jedem stößt dieser Vorschlag auf Gegenliebe.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann würde die Verteilung von Flüchtlingen auf die Bundesländer gerne ändern. „Wir können nicht nur nach dem Schlüssel operieren, sondern müssen auch schauen, wo tatsächlich Wohnraum vorhanden ist“, sagte der Grünen-Politiker angesichts steigender Flüchtlingszahlen. Während in Großstädten Wohnungsmangel herrsche, würden im Osten Deutschlands ganze Straßenzüge abgerissen. „Wir werden das anmahnen, wenn die Situation so weitergeht“, sagte Kretschmann am Dienstag. Er gab zugleich zu, dass es nicht einfach sei, vom sogenannten Königsteiner Schlüssel abzurücken, der seit jeher festlegt, wie viele Asylbewerber ein Bundesland aufnehmen muss.

Thüringen: Ja zu mehr Flüchtlingen, wenn Geld vom Bund

Kretschmanns Südwesten gehört zu den Ländern, die nach diesem Schlüssel einen großen Anteil der Flüchtlinge aufnehmen.

Aus den Ostländern, die Kretschmann ausdrücklich verstärkt in die Pflicht nehmen will, war am Mittwoch nicht nur glatte Ablehnung zu hören: Thüringens Regierungssprecher Alexander Fischer sagte dem Tagesspiegel, die rot-rot-grüne Landesregierung bekenne sich zu einer humanitären Flüchtlingspolitik und „unterstützt alle Überlegungen, die diesem Ziel dienen“. Dazu gehöre auch „die effiziente Ausnutzung der bundesweit vorhandenen Wohnraumkapazitäten“.

Fischer mahnt allerdings die finanzielle Frage an: „Spielraum für eine Debatte über die Verteilung der Flüchtlinge auf die Länder“ könne es nur geben, „wenn der Bund dauerhaft und strukturell in die Finanzierung der entstehenden Kosten einsteigt“, sagte Fischer. „Eine Erhöhung des Anteils an den aufgenommenen Flüchtlingen wäre grundsätzlich nur dann möglich, wenn den Ländern die entstehenden Kosten vollständig ersetzt werden.“

Sachsen: Es bleibt beim Königsteiner Schlüssel

Ein hartes Nein zu Kretschmanns Überlegungen kommt dagegen aus Sachsen: „Wir halten an der bewährten Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel fest“, sagte Martin Strunden, der Sprecher des sächsischen Innenministeriums. Auch Christian Hartmann, Innenpolitik-Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, nennt ihn „ein faires Instrument, das anhand objektiver Kriterien die Verteilung von Asylbewerbern und Flüchtlingen“ regle. Ähnliches wünsche er sich auch zwischen den EU-Ländern. Kretschmann mache es sich zu leicht – und verkenne, „dass es auch in den neuen Ländern Wachstumsregionen gibt – genauso wie sich in den alten Ländern dünn besiedelte Landstriche finden lassen“. Kretschmann solle lieber an „konstruktiven Lösungen“ mitarbeiten, zum Beispiel an der „konsequenten Rückführung abgelehnter Asylbewerber“.

Sachsen hat in den vergangenen Wochen durch Übergriffe auf Flüchtlinge in Meißen und Freital nicht nur nationale Schlagzeilen gemacht. In Freital nahe der Landeshauptstadt Dresden gab es wochenlang Proteste, bei einer Bürgerversammlung zum Thema kam es zu Tumulten, Kritiker dieser Aufmärsche wurden beschimpft.

Grüne fordern Hilfe vom Bund

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt wertete Kretschmanns Äußerungen auch als Reaktion darauf, dass der Bund im Rahmen des Flüchtlingsgipfels bislang „nichts Substanzielles“ zur überfälligen strukturellen Entlastung von Ländern und Kommunen angeboten habe. „In dem einen Bundesland ist fehlender Wohnraum ein Problem, in einem anderen sind es die Finanzen“, sagte Göring-Eckardt dem Tagesspiegel. Als „verantwortungsvoller Landesvater“ habe Kretschmann zu Recht bemängelt, dass Kommunen und Länder bei der Flüchtlingsunterbringung vor immensen Aufgaben stünden. „Eine Lösung kann es nur über eine substanzielle Beteiligung des Bundes an der Flüchtlingshilfe geben“, sagte die Grünen-Politikerin weiter.

"Wir brauchen die zweite Wende - kulturell und emotional"

Die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, Anetta Kahane, gab Kretschmann – "vonn seinen vermutlich egoistischen Motiven abgesehen“ - recht. Sie hält die geringe Präsenz von Flüchtlingen in den Ostländern für ein großes Problem: „Im Osten gibt es gemessen an der Bevölkerung noch immer zu wenig Menschen, die sichtbar Minderheiten angehören, die zum Beispiel schwarz sind. Und es gibt einen Strukturwandel, ganze Gegenden entvölkern sich“, sagte Kahane. „Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, würde ich sagen: Es ist Zeit für die zweite Wende und einen neuen Aufbau Ost, infrastrukturell, emotional, kulturell.“

Ein Drittel Deutschlands blieb weiß

Das bedeute aber auch größeres Engagement: „Das muss man wollen, man muss sich darüber klar werden, dass es im Osten mehr Unerfahrenheit mit Fremden, mehr Abwehr gibt“. Es sei „die größte Bankrotterklärung der deutschen Politik nach der Wende“ gewesen, dass sie zugelassen habe, „dass ein Drittel des Staatsgebiets weiß blieb“. Kahanes Stiftung engagiert sich seit Jahren gegen Rassismus und für den Aufbau demokratischer Gegenstrukturen, vor allem in den östlichen Bundesländern. „Willy Brandt sprach vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehöre, und meinte die weißen Deutschen“, sagte sie. „Das hat einen nationalistischen Auftrieb ausgelöst. Ein paar Millionen andere wurden glatt vergessen. Wenn damit jetzt Schluss wäre, fände ich das ausgezeichnet.“

Zur Startseite