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An der Frontlinie im Süden der Ukraine steigt Rauch auf: Die genauen Geschehnisse bei der Gegenoffensive sind unklar.

© AFP/Dimitar Dilkoff

„Geht rein, macht sie fertig und nehmt zurück, was uns gehört“: So äußern sich Soldaten über die ukrainische Gegenoffensive in Cherson

Die Ukraine versucht, Teile der Region von den Russen zurückzuerobern. Karten des „Institute for the Study of War“ zeigen die Größe der umkämpften Gebiete.

Am Montag hatte die Ukraine ihre lange angekündigte Gegenoffensive in der Region Cherson gestartet. „Geht rein, macht sie fertig und nehmt euch zurück, was uns gehört“, beschreibt ein 32-jähriger ukrainischer Gefreiter im Interview mit dem „Wall Street Journal“ die Aufgabe seiner Einheit im Kampf um das Gebiet im Süden der Ukraine.

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Generell gibt es aber nur wenige Informationen über die Gegenoffensive in Cherson, das schon zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besetzt worden war. Der ukrainische Generalstab hat die Bevölkerung und Medien dazu aufgerufen, keine Details und Bildmaterial von den Gefechten und Aufenthaltsorten der Truppen zu teilen.

Die wenigen Informationen, die aus Cherson bekannt sind, kommen von russischen Militärbloggern, Personen, die sich nicht an die Informationssperre halten, sowie von ukrainischen Soldaten. Einige von ihnen konnte das „Wall Street Journal“ in einem Krankenhaus kurz hinter der Front im Süden der Ukraine unter Wahrung ihrer Anonymität interviewen.

Russen „haben eine Menge Ausrüstung, aber nur wenige Männer“

„Die Jungs sind in Kampfstimmung. Sie gehen vorwärts“, sagte der Gefreite gegenüber der Zeitung. Seine Einheit habe in den ersten Stunden der Offensive ein besetztes Dorf zurückerobert. Andere Truppenteile seien in Richtung der Regionalhauptstadt Cherson vorgedrungen und versuchten, Dörfer entlang des Weges zu räumen.

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Russische Soldaten würden teilweise aus ihren Stellungen fliehen, Ausrüstung zurücklassen und die Leichen toter Kameraden mit Sprengfallen versehen, erzählte der Gefreite, der wegen einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

„Sie werfen alles gegen uns“, sagte ein anderer ukrainischer Soldat. Die Russen würden mit Artillerie, Panzern, Hubschraubern und Mörsern kämpfen. „Sie haben eine Menge Ausrüstung, aber nur wenige Männer.“

Doch wie lange die russische Ausrüstung und Munition noch reichen, ist unklar. Die russischen Besatzer leiden offenbar unter Personal- und Nachschubproblemen, wie aus dem täglichen Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums zum Ukrainekrieg am Dienstag hervorgeht. Seit Wochen sind die Brücken über den Dnepr, die als Nachschubrouten für Putins Armee dienen, schwer beschädigt. Die Russen müssen ihr Material per Fähre über den Fluss bringen, berichtete die „New York Times“ vor etwa einem Monat.

USA sollen die Offensive mitgeplant haben

„Wir rücken in einigen Bereichen vor und werden in anderen zerschlagen“, erläutert ein weiterer Soldat, der ebenfalls mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus liegt, die Situation gegenüber dem „Wall Street Journal“.

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Auch das US-Verteidigungsministerium hat Kenntnis von Kämpfen im Süden der Ukraine: „Uns sind ukrainische Militäroperationen bekannt, die eine gewisse Vorwärtsbewegung gemacht haben, und aus der Region Cherson wissen wir, dass russische Einheiten in einigen Fällen zurückfallen“, sagte Pentagon-Sprecher Pat Ryder am Mittwoch. Mit Blick auf militärtaktische Überlegungen wollte er aber nicht ins Detail gehen.

Die USA hätten einen entscheidenden Faktor in der Vorbereitung der ukrainischen Gegenoffensive gespielt, berichtet CNN. Nicht nur Waffenlieferungen spielten dabei eine Rolle. Mehrere Quellen hätten dem US-Nachrichtensender bestätigt, dass die Gegenoffensive mit sogenannten Kriegsspielen geplant worden sei.

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Zur Vorbereitung der Gegenoffensive seien demnach verschiedene Szenarien durchgespielt worden. Die USA habe die Regierung in Kiew zudem dazu gedrängt, die Gegenoffensive geografisch zu begrenzen, um den Kampf an mehreren Fronten im Süden der Ukraine zu vermeiden.

Ukraine berichtet nur über erfolgreiche Luftschläge

Die meisten Verluste würden den russischen Truppen derzeit mit Luftangriffen auf Gefechtsstände, Stellungen und Munitionsdepots zugefügt, teilte der stellvertretende Leiter der ukrainischen Hauptoperationsabteilung, Oleksij Gromow, nach Angaben der ukrainischen Nachrichtenagentur Ukrinform mit.

Am Freitag beanspruchte das Kommando Süd des ukrainischen Militärs die Zerstörung von fünf russischen Munitionsdepots für sich. Informationen zu Bodenstreitkräften wurden nicht genannt. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.

Russland erklärte unterdessen die ukrainische Gegenoffensive in Cherson bereits am Mittwoch als gescheitert. Die Ukraine habe schwere Verluste erlitten, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Allerdings warnte das US-amerikanische „Institute for the Study of War“ (ISW) davor, man solle „nicht auf russische Informationskampagnen hereinfallen“.

Die blau gekennzeichneten Gebiete sind „Beanspruchte ukrainische Gegenoffensiven“ (Stand: 1. September 2022, 21 Uhr).
Die blau gekennzeichneten Gebiete sind „Beanspruchte ukrainische Gegenoffensiven“ (Stand: 1. September 2022, 21 Uhr).

© Institute for the Study of War und AEI's Critical Threats Project

Auf den Karten, die das ISW zusammen mit seinen täglichen Lageberichten veröffentlicht, sind große Teile des Gebiets nördlich der Regionalhauptstadt Cherson als „Beanspruchte ukrainische Gegenoffensiven“ gekennzeichnet. Seine Informationen erhält das Institut aus den wenigen Informationsschnipseln, den die offiziellen ukrainischen Quellen preisgeben, Bildern und Videos aus Sozialen Medien und Satellitenfotos. Aber auch russische Militärblogger berichten laut ISW-Lagebericht von anhaltenden Angriffen der ukrainischen Armee in Cherson.

Nachrichtensperre der ukrainischen Armee hält

Dabei sind die Blogger auf der offiziellen Linie der russischen Führung, dass die ukrainischen Angriffe zurückgeschlagen werden und die Gegenoffensive gescheitert ist, berichtet das „Institute for the Study of War“. Das ISW berichtet aber auch von widersprüchlichen Behauptungen.

So hätten einige Militärblogger behauptet, dass russische Luftlandetruppen ukrainische Angriffe auf den Ort Olhyne ganz im Norden der Region Cherson zurückgeschlagen haben, während andere berichteten, dass die russischen Streitkräfte die südliche Hälfte von Olhyne „sicher unter Kontrolle“ hätten.

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Der Lagebericht des „Institute for the Study of War“ legt nahe, dass die Offensive der ukrainischen Armee noch lange nicht abgeschlossen ist. Die US-amerikanischen Militärexperten zitieren aus verschiedenen Quellen und zeichnen ein undurchsichtiges Bild von einzelnen Gefechten. Solange der ukrainische Generalstab seine Informationssperre aufrechterhält und sich der größte Teil der Akteure daran hält, dürfte das so bleiben. „Militärische Operationen in der Größenordnung der laufenden ukrainischen Gegenoffensive sind nicht innerhalb eines Tages oder einer Woche erfolgreich oder gescheitert“, resümierten die ISW-Experten in ihrem jüngsten Lagebericht.

Auch die ukrainischen Soldaten im Frontkrankenhaus denken nicht ans Aufgeben. „Ich möchte zu unseren Leuten zurückkehren“, sagte der 32-jährige Gefreite dem „Wall Street Journal“. „Ich wollte sofort zurückkehren, als ich ging.“ (mit Agenturen)

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