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Der Trierer Bischof Stephan Ackermann.

© picture alliance / dpa

Interview mit Bischof Stephan Ackermann: "Glaubwürdig zu sein, ist eine Frage des Handelns"

Der Trierer Bischof Stephan Ackermann, katholischer Missbrauchsbeauftragter, über "Spotlight" und die Aufarbeitung der sexuellen Übergriffe.

Haben Sie den Film „Spotlight“ gesehen? Er zeigt, wie Journalisten des Boston Globe 2002 den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Boston aufdecken.

Ich habe ihn gesehen anlässlich unserer jährlichen Fachtagung mit 60 Missbrauchs- und Präventionsbeauftragten der deutschen Bistümer und Ordensgemeinschaften in Köln.

Wie hat der Film auf Sie gewirkt?
Er hat mich berührt, weil es ein ganz ruhiger Film ist. Es hat mich noch mal schockiert, diese Form des Nicht-Sehen-Wollens vorgeführt zu bekommen. Das war ja nicht nur ein kirchliches Problem. Auch die Journalisten haben die Dimension lange Zeit nicht gesehen. Auch die Begegnung mit den Betroffenen ist sehr authentisch dargestellt.

2002 wurde die Dimension der Übergriffe in den USA deutlich. Aber Kardinal Karl Lehmann, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, meinte: „Den amerikanischen Schuh müssen wir uns nicht anziehen.“ In Deutschland gebe es nur Einzelfälle. Warum diese Ignoranz?
Kardinal Lehmann hat damals nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Das Allermeiste war ja nicht aktenkundig. Wir dachten wirklich, das seien Einzelfälle. Erst nachdem sich die Opfer gemeldet hatten, konnte man die Dimension erkennen. Die deutschen Bischöfe waren aber nicht untätig und haben 2002 erstmals Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch erstellt.

Dachte man, das ist eine andere Kultur dort, in den USA?
Man dachte, das ist ein amerikanisches Problem, weil es dort irgendwie lasziver zugehe oder so. Dann kamen die Fälle in Irland und man dachte, das ist ein angelsächsisches Phänomen. 2010 kamen die Fälle in Deutschland ans Licht – und Kollegen anderswo sagen: So ist der dekadente Westen. Heute wissen wir: Auch auf den Philippinen und in Südamerika gibt es sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche.

Warum dauerte es in Deutschland so lang, bis das Ausmaß deutlich wurde?
Es hängt offenbar auch mit gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zusammen, warum man sich diesem abgründigen Thema nicht früher stellt, bis es auf einmal einen Punkt gibt, an dem man einsieht: Wir kommen an dem Thema nicht mehr vorbei.

Das „Spotlight“-Team glaubt einem Experten, der sagt, statistisch gesehen vergreifen sich sechs Prozent der Priester an Minderjährigen. Die Reporter schauen daraufhin die Mitarbeiterverzeichnisse des Bostoner Bistums nach Vermerken wie „erkrankt“ oder „versetzt“ durch, denn oft wurden die Täter einfach weitergeschoben. Sie kommen auf 87 Täter. Mit dieser Methode hätten die deutschen Bistümer doch auch längst nach Verdächtigen suchen können.
Klar haben auch wir Mitarbeiterverzeichnisse. Da steht drin, wenn jemand beurlaubt ist oder „in Ruhe“. Aber natürlich lässt sich nicht jede Beurlaubung oder jeder Ruhestand mit einem Hinweis auf sexuellen Missbrauch gleichsetzen. Eine quantitative und qualitative Übersicht wollen wir mithilfe des Forschungsprojekts ermitteln, das die Deutsche Bischofskonferenz 2014 in Auftrag gegeben hat.

Für dieses Projekt sichten 18 Bistümer Akten ab dem Jahr 2000. Neun Bistümer, darunter Ihr Trierer Bistum, lassen „Tiefenbohrungen“ bis 1945 zu. Warum nur neun?
Das ist die Entscheidung der Forscher. Natürlich gehen die uns bekannten Fälle aus der Zeit vor 2000 in die Analyse ein. Außerdem sagen uns die Wissenschaftler, dass die Aussagekraft der Studie nicht größer wäre, wenn alle Bistümer Tiefenbohrungen machen würden. Es wäre aber ein ungleich größerer Aufwand.

So bleibt aber der Eindruck, dass sich nur wenige Bistümer systematisch der Vergangenheit stellen.
Der Eindruck ist falsch. Wir Bischöfe rufen die Betroffenen immer wieder auf und ermutigen sie, sich zu melden. Und viele melden sich ja auch.

Aber ist es nicht etwas anderes, ob man wartet, bis sich Opfer melden, oder ob man systematisch Akten durchschaut?
In meinem Bistum gab es die Situation, dass wir bei einer Aktendurchsicht auf einen Fall gestoßen sind, von dem wir bis dahin nichts wussten. Dann stellte sich die Frage: Wie gehen wir damit um? Sollen wir nach Betroffenen recherchieren? Zugleich haben wir immer gesagt: Wir wollen opferorientiert vorgehen. Das heißt, wir wollen, dass die Betroffenen entscheiden, ob sie mit der Vergangenheit konfrontiert werden wollen oder nicht. Da kann ich nicht einfach anrufen und sagen: „Sie waren doch damals in dieser Ferienfreizeit ...“ Das wäre eben nicht opferorientiert. Deshalb ermutigen wir die Betroffenen, sich zu melden.

Solange die Aufklärung über Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen beim Bistum lag, wurde eine Handvoll Fälle öffentlich. Ein externer Anwalt kam jetzt auf 231 verprügelte Chorknaben und über 60 Fälle von sexueller Gewalt. Ohne Hilfe von außen geht es offensichtlich nicht, oder?
Dabei ist aber zu bedenken: Der externe Anwalt wurde vom Bistum eingesetzt, wenn auch mit Verzögerung.

Wann will das Forschungsprojekt der Bischofskonferenz Ergebnisse liefern?
Kommendes Jahr. Vielleicht wird es dieses Jahr einen Zwischenstand geben.

Nach Ihrem jetzigen Kenntnisstand: Wie viele Täter, wie viele Opfer gibt es?
Ich kann nur sagen, dass bis jetzt rund 1600 Betroffene Anträge auf Anerkennung und materielle Leistungen gestellt haben. Wie viele Täter sich dahinter verbergen, können wir erst mit der Studie sagen.

Wie viele Täter wurden aus ihren Ämtern entlassen?
Da bin ich überfragt. Diese Zahlen zusammenzuführen, ist ebenfalls Teil der Studie. Über die Ergebnisse müssen wir dann offen und nüchtern diskutieren.

Sexueller Missbrauch durch Geistliche hat viel mit der Ausübung von Macht zu tun, mit der Selbstherrlichkeit von Priestern und mit dem Corpsgeist der Institution. Pater Klaus Mertes, der frühere Leiter des Canisius-Kollegs, hat der Kirche kürzlich vorgeworfen, sie stelle sich immer noch nicht den System- und Strukturfragen. Hat er recht?
Ich halte das für einen Pauschalvorwurf. Die Kultur hat sich in der Kirche verändert bis hin zur Spitze. Das zeigt auch die Tatsache, dass jetzt Kurienkardinal George Pell vor einer australischen Untersuchungskommission öffentlich Stellung nehmen muss. Er leitet das von Franziskus geschaffene Wirtschaftssekretariat.

Muss er um seinen Job fürchten?
Da müssen Sie den Vatikan fragen.

Franziskus hat ein „Bischofs- tribunal“ angekündigt. Wird es kommen?
Das denke ich schon. Wenn Franziskus etwas ankündigt, meint er es ernst. Er will Bischöfe zur Verantwortung ziehen, wenn sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind oder Leitlinien etwa im Umgang mit Missbrauch nicht umsetzen. Den aus Polen stammenden Nuntius Josef Wesolowski hat er verhaften lassen.

Doch Kardinal Gerhard Ludwig Müller ist Präfekt der Glaubenskongregation. In dieser Funktion soll er der oberste Aufklärer sein. Als Bischof von Regensburg hat er einen wegen sexuellen Missbrauchs verurteilten Pfarrer erneut in der Seelsorge eingesetzt. Wie glaubwürdig ist er?
Glaubwürdigkeit ist vor allem eine Frage des Handelns. Ich habe die Glaubenskongregation unter seinem Vorgänger erlebt, und ich erlebe sie heute. Die Arbeit hat sich professionalisiert, die Urteile werden eher schneller gefällt. Ich glaube auch, dass Kardinal Müller die Dimension durch seine Tätigkeit in Rom jetzt anders beurteilt als damals.

Kardinal Francis Law legte 2002 die Leitung des Bistums in Boston nieder, nachdem ihm vorgeworfen worden war, die Missbrauchsfälle gedeckt zu haben. Die Kirche hat ihn nach Rom geholt. Er lebt 85-jährig in einem schönen Palast. Sieht so Buße aus?
Da schwingt der Vorwurf mit, der Vatikan hätte Kardinal Law vor der amerikanischen Justiz gerettet. Ich bin überzeugt, dass ihn die Amerikaner vor Gericht gestellt hätten, wenn die Gesetze dafür ausgereicht hätten. Aber das Bistum musste auch ohne Law für die Missbrauchsfälle geradestehen. Sein Nachfolger musste sogar das Bischofshaus verkaufen, um die entsprechenden Zahlungen aufzubringen.

Wie viel haben die deutschen Bischöfe bisher gezahlt?
Da habe ich keinen Überblick.

Betroffene fürchten, dass das Thema in der Öffentlichkeit wieder weniger wichtig wird. Ist die Sorge berechtigt?
Die Gefahr besteht durchaus – gesellschaftlich, aber auch kirchlich. Deshalb müssen wir an dem Thema dranbleiben. Die erste Runde der Fortbildungen ist durch. Hier und da wird der Wunsch geäußert, das Thema jetzt wieder ruhiger anzugehen. Wir dürfen aber hinter den erreichten Standard nicht zurückfallen. Zum Teil kommt jetzt die nächste Generation der Präventions- und Missbrauchsbeauftragten in ihre Ämter. Die müssen sich in die Thematik einarbeiten. Jede Institution muss Schutzkonzepte erarbeiten, alle Mitarbeiter müssen sich beteiligen.

Das Gespräch führte Claudia Keller

Zur Person

Stephan Ackermann kommt aus der Eifel und wurde 2009 mit 46 Jahren Bischof von Trier. 2010 ernannten ihn seine Bischofskollegen zum Missbrauchsbeauftragten. Er sprach sich für „null Toleranz“ gegenüber Tätern aus, musste aber selbst gegen Vorwürfe kämpfen, in seinem Bistum nicht konsequent genug zu handeln. Durch die Eifeler Einfärbung seiner Sprache klingt vieles nicht so hart wie aus dem Mund anderer Bischöfe. Und 2012 tat Ackermann etwas, was sich viele Katholiken auch anderswo wünschen: Er setzte eine Synode ein, in der Geistliche und Laien gemeinsam über Reformen im Trierer Bistum nachdenken.

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