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Politik: Glück im Anzug

Die Türkei feiert Verheugens Zusage und rätselt, wie sehr der Premier für seinen Erfolg feilschen musste

Vor dem Denkmal der Türkischen Republik in Istanbul zupft Esra Fidan ihr modisch eng gestecktes Kopftuch zurecht. „Nach Europa, je schneller desto besser“, freut sich die 18-jährige Abiturientin über die Einigung von Brüssel, die nach dem Krach um die türkische Strafrechtsreform den Weg für Beitrittsgespräche zwischen Ankara und der EU öffnete. „Unser Ministerpräsident macht alles richtig“, sagt ihre Mutter Feriha, deren Kopftuch nach Hausfrauenart locker geknüpft ist. „Wir vertrauen ihm vollkommen.“ Das Vertrauen in die Fähigkeiten von Recep Tayyip Erdogan teilten am Tag nach der Beilegung des Konflikts mit der EU-Kommission zwar nicht alle Türken, wohl aber die Freude über den unerwartet guten Ausgang. Mit Jubel, Schlagzeilen und Börsenrekorden feierte das Land die Zusage der EU-Kommission, dass sie am 6. Oktober die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfehlen wird.

„Die Tür nach Europa steht offen“, titelte die Zeitung „Milliyet“ zum Ergebnis von Brüssel. Dass die Regierungspartei AKP ihre strittigen Pläne zur Kriminalisierung des Ehebruchs am Ende zurückziehen und die aufgeschobene Strafrechtsreform doch noch rechtzeitig vor dem EU-Bericht am 6. Oktober durchs Parlament lotsen würde, das hatten viele Beobachter durchaus für möglich gehalten. Dass Erdogan dafür von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen schon jetzt das bedingungslose Votum der Kommission für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen garantiert bekommen würde, damit hatte niemand gerechnet. Ob der „diplomatische Sieg“, von dem in seiner Umgebung die Rede war, dem Geschick des Ministerpräsidenten zu verdanken ist oder eher seinem Glück, darüber wurde in Ankara auch am Tag danach noch gestritten.

Sein „Glücksanzug“ habe dem Regierungschef wieder gute Dienste getan, spekulierte die Zeitung „Sabah“ und verwies darauf, dass Erdogan immer im weiß gestreiften Anzug auftauche, wenn es kritisch werde. Das liberale Blatt „Radikal“ kolportierte Gerüchte, wonach Ankara den EU-Kommissionsbericht schon vor zwei Wochen in Händen hielt – und den Krach mit Brüssel absichtlich vom Zaun brach, weil ihr darin zu viele Bedingungen enthalten waren. Von einem regelrechten Feilschen wusste „Sabah“ aus dem Treffen zwischen Erdogan und Verheugen zu berichten: Wenn er von Verheugen eine klare Garantie bekomme, dass es keine weiteren Bedingungen für Beitrittsgespräche geben werde, könne er die Verabschiedung der Strafrechtsreform sofort veranlassen, sagte Erdogan demnach, während er schon demonstrativ das Handy für den Anruf in Ankara zückte.

Der Ministerpräsident schulde dem Land eine Erklärung, forderte der Leitartikler Murat Yetkin und schlug dafür die Sondersitzung des Parlaments am Sonntag vor, auf der die Strafrechtsreform verabschiedet werden soll. Schließlich habe die Türkei durch die Affäre an Glaubwürdigkeit verloren, kritisierte „Milliyet“.

„Ein Fehler, eine Schande und völlig unnötig“ sei die Ehebruchdebatte gewesen, sagt der Bauingenieur Hüseyin Kurduoglu, der durch Istanbul flaniert. Dass der Weg nach Europa nun frei sei, glaubt er nicht: „Wir haben noch viel Arbeit vor uns.“ Einig sind sich die meisten Türken in der Forderung des TV-Moderators Mehmet Ali Birand: Bis zum EU-Gipfel im Dezember darf so etwas wie die Ehebruchdebatte nicht noch einmal passieren.

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