Politik: Hier geht’s nach Europa
Von Christoph von Marschall
Die Begeisterung ist ansteckend, der Elan der Massenproteste in der Ukraine mitreißend. Europa zittert und hofft mit den Menschen, die in Eiseskälte um ihre Zukunft kämpfen. Der Osten, der so lange eine Quelle der Angst war – oder der Überforderung angesichts der Mammuterweiterung der EU im Mai um zehn Staaten –, weckt wieder Zuversicht. Wir im Westen können plötzlich eine Friedensdividende der europäischen Integration mit Händen greifen. Die Präsidenten Polens und Litauens, Aleksander Kwasniewski und Valdas Adamkus, vermitteln in Kiew, dazu Lech Walesa, der ExSolidarnosc-Führer und Friedensnobelpreisträger. EU-Europa wächst neue Kompetenz zu: dank der neuen Mitglieder, die als direkte Nachbarn weit mehr von der Ukraine verstehen als Westeuropa und zudem das größte Interesse an einer gewaltfreien Lösung haben.
Schon fragen die Ersten, ob die Ukraine zu lange vernachlässigt wurde, ob sie nicht dringender eine Beitrittsperspektive braucht als die Türkei? Aber Europa hat da nichts Gravierendes versäumt, auch Deutschland nicht. Es gab in den jüngsten Jahren unzählige Angebote zur Kooperation, sie scheiterten an Anmaßung und Rückständigkeit des Regimes – die großzügige Offerte, das europäische Militärtransportflugzeug nicht von Airbus bauen zu lassen, sondern mit den Antonow-Werken, zum Beispiel an schamlosen Bereicherungswünschen der ukrainischen Vertreter. Ja, die Bürger der Ukraine verdienen jetzt starke Signale der Hilfe und der Solidarität, aber das muss nicht gleich der EU-Beitritt sein. Man darf die Oppositionsbewegung auch nicht verklären. Sie ist ein buntes Sammellager. Ob all ihre Führer sich als Demokraten erweisen, ist offen. Europa handelt schon richtig. Wenige Tage nach Beginn der Krise um die gefälschten Wahlen hat die EU eine gemeinsame Haltung, die sie unbeugsam gegen Russlands Präsident Putin vertritt. Ihr außenpolitischer Vertreter Javier Solana vermittelt gemeinsam mit dem Polen Kwasniewski in Kiew.
Und die Bundesregierung? Die fährt doppelgleisig. Die Grünen haben Orange entdeckt, als Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten, ebenso Oppositionsführerin Merkel. Außenminister Fischer drängt auf Aufklärung der Betrugsvorwürfe oder gar eine Wahlwiederholung. Des Kanzlers Freundschaft mit und Rücksichtnahme auf Putin dagegen wirkt problematisch. Sie kann sich als Segen erweisen – wenn Schröder genug Einfluss hat, um Blutvergießen zu verhindern. Russland wird zwar nicht einmarschieren, aber die Gerüchte, dass Moskaus Spezialkräfte in Zivil in der Ukraine aushelfen sollen, klingen plausibel. Eskaliert die Lage, müsste dem Kanzler das Lob, Putin sei ein großer Demokrat, peinlich sein.
Europa kann jedoch noch mehr tun – wie Polen, das gerade Oppositionsführer Tarasiuk im Sejm sprechen ließ. Der Westen muss sich auch nicht durch Moskaus Retourkutsche irremachen lassen, erst kritisiere er Putin wegen dessen Parteinahme im ukrainischen Wahlkampf, um sich nun selbst einzumischen. Es ist ein großer Unterschied zwischen Russlands Intervention im Dienste von Wahlfälschung und eigener Machtausübung in der Ukraine und westlichem Drängen zur Anerkennung des wahren Wahlergebnisses – um es pathetischer auszudrücken: zwischen imperialem Eingreifen und dem Schutz von Demokratie und Grundrechten. Wenn die Bürger der Ukraine sich frei für ein Bündnis mit Moskau entscheiden, bitte sehr. Wünschen sie eine Zukunft nach westlichen Standards, muss Russland das akzeptieren. Die Grenzen fallen.
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