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Das frisch vermählte russische Paar Stepan und Olga bei der Trauung im Standesamt.

© Foto: Imago/Itar-Tass/Donat Sorokin

Hochzeits-Boom in Russland: Zahl neuer Eheschließungen zeigt das wahre Ausmaß von Putins Mobilisierung

Putin verkündete, 300.000 Reservisten einziehen zu lassen. Russische Journalisten berechneten nun, dass es fast eine halbe Million gewesen sein müssen – mithilfe der Zahl der Eheschließungen.

Im September verkündete Kremlchef Wladimir Putin die Teilmobilmachung in Russland: 300.000 Männer wolle er ab dem 21. September für den Krieg gegen die Ukraine einziehen. Dies entspräche einem Prozent der mobilisierbaren Ressourcen. Viele Männer sind daraufhin aus Russland geflohen, andere folgten der Anweisung des Präsidenten.

Wie viele Personen Putin tatsächlich eingezogen hat, lässt sich nur schwer überprüfen. Das unabhängige, russische Medienportal Mediazona fand jedoch einen Weg, die Zahl abzuschätzen: Es verglich die Zahlen der Neu-Eheschließungen mit der Anzahl der unverheirateten Paare und errechnete daraus, dass bis Mitte Oktober bereits mindestens 492.000 Menschen mobilisiert wurden.

492.000
Menschen sollen bis Mitte Oktober mobilisiert worden sein.

Einberufene dürfen ohne Wartezeit heiraten

Nach russischem Gesetz müssen Paare üblicherweise nach der Registrierung beim Standesamt vier Wochen warten, bevor sie heiraten dürfen. Unter besonderen Umständen ist diese Frist jedoch aufgehoben: Die Einberufung zählt als solcher. Rekruten können somit bereits am gleichen Tag heiraten. Dies dauere lediglich 20 bis 30 Minuten.

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Viele einberufene Russen sollen von dieser Regelung Gebrauch gemacht haben, denn nur die gesetzliche Ehepartnerin darf ihren im Krieg verwundeten oder getöteten Ehemann im Krankenhaus sehen oder erhält eine Entschädigung. Auch wenn ein Paar bereits jahrelang zusammengelebt hat, hat die Partnerin ohne den Eheschein keine vergleichbaren Rechte.

Nach Mobilmachung achtmal so viele Hochzeiten pro Woche

Seit der Teilmobilmachung sind die Hochzeitzahlen deswegen rapide gestiegen. Exemplarisch zeigt Mediazona dies anhand der Republik Burjatien im Osten Russlands. Zwischen dem ersten und 21. September wurden dort pro Woche im Schnitt 83 Hochzeiten geschlossen. Danach waren es 662.

Mediazona geht davon aus, dass die zusätzlichen Ehen bis Mitte Oktober allesamt auf die Mobilmachung zurückzuführen sind. Männer, die ohne Einberufungsbefehl und nur als Vorsichtsmaßnahme heiraten möchten, könnten dies aufgrund der vierwöchigen Frist frühestens ab dem 21. Oktober. Diese Fälle tauchen in den verwendeten Daten von Mitte Oktober noch nicht auf.

Insgesamt liegen Mediazona Heiratsdaten von 75 der 85 russischen Regionen vor. In diesen wurden 31.000 Eheschließungen von eingezogenen Männern registriert. Die Journalisten folgern, dass mindestens 31.000 unverheiratete Männer bis Mitte Oktober eingezogen wurden.

Die Frischvermählten Stepan und Olga, sowie Maxim und Aljona (v.l.n.r.) bei der Hochzeitszeremonie im Standesamt. Stephan und Maxim haben ihre gepackten Rucksäcke dabei.

© Foto: Imago/Itar-Tass/Donat Sorokin

Die Mobilisierungsrate liegt bei schätzungsweise rund 1,5 Prozent

Diese Zahl präzisieren die Journalisten von Mediazona, indem sie abschätzen, wie viel Prozent der russischen Männer in außerehelichen Beziehungen leben.

Heiraten um zu trauern. So vermeidbar war der angezettelte Krieg durch die Russen, so unvermeidbar jetzt die Trauer. Einfach nur furchtbar. Das Drama beenden können nur die Russen, indem sie nicht mehr nach den Pfeifen der Obrigkeit in Moskau tanzen.

Tagesspiegel-Leser/in morgensum5

Laut einer russischen Volkszählung gab es 2021 fast 1,8 Millionen Männer zwischen 18 und 49 Jahren, die in einer nicht eingetragenen Lebensgemeinschaft lebten. Die Volkszählung gilt unter Demografen und Statistikern aufgrund von Datenlücken jedoch als unzuverlässig und der Demograf Alexei Raksha korrigiert die Zahl nach oben auf zwei Millionen.

Wenn 31.000 dieser zwei Millionen Männer eingezogen wurde, beträgt die Mobilisierungsrate folglich 1,56 Prozent bezogen auf ganz Russland.

Dieser Prozentsatz schwankt stark von Region zu Region. Am höchsten ist der Anteil im Osten des Landes. In absoluten Zahlen wurden die meisten Rekruten hingegen in der Region um Moskau, in Krasnodar im Kaukasusvorland und in der Republik Baschkortostan am äußersten Ostrand Europas eingezogen, die zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Russlands gehören.

492.000 mobilisierte Soldaten seit dem 21. September

Diesen Anteil rechnet Mediazona nun auf alle Männer zwischen 18 und 49 Jahren hoch. Hierfür verwendeten sie die exakten Anteile für alle 75 russischen Regionen, die Daten zum Heiratsstatus zur Verfügung gestellt hatten.

64 Prozent
mehr Soldaten wurden eingezogen, als von Putin angekündigt.

Für diese 75 Regionen allein berechneten sie die Zahl der seit der Mobilmachung einberufenen Soldaten auf 431.000. Werden die Zahlen für die übrigen zehn Regionen abgeschätzt, beläuft sich die Zahl auf 492.000 – 64 Prozent mehr als von Putin angekündigt.

Mediazona schätzte die Anzahl der einberufenen Soldaten in Moskau auf 8.900. Diese Zahl deckt sich nach eigenen Angaben mit den offiziellen Zahlen von Moskaus Bürgermeisters Sergej Sobjanin.

Dies könnte ein Indiz für Verlässlichkeit der Abschätzungen der Journalisten sein. Auch wenn die Zahlen auf Schätzungen beruhen, so weicht das Endergebnis doch erheblich von Putins Ankündigung von 300.000 mobilisierten Rekruten ab. (Tsp)

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